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Kapitel 65: Die Perle von San Marco

Korfu Venedig Die Perle von San Marco Die Perle von San Marco Venedig Es war der Urlaub mit meinem Mann rund um unseren Hochzeitstag in Venedig. Wir gastierten in einem noblen Hotel und saßen jeden Tag auf der Piazza San Marco im Caffè Florian. Am Hochzeitstag selbstverständlich auch. Wir blickten auf die Piazza und genossen bei einem Wein die klassische Musik von dem Streichquartett, die Wärme und das Ambiente im späten September. Mein Mann las Zeitung. Es war ruhig – nicht im akustischen Sinne, denn Menschen unterhielten sich und die Musik spielte, aber das Leben auf der Piazza war ohne Eile. Es tröpfelte. Ein ziemlich ramponiert gekleideter Mann – selbst ich würde ihn, ohne ihn zu kennen, als Homeless, Clochard, vielleicht Bettler oder despektierlich umgangssprachlich als Penner bezeichnen – ging fast am Caffè Florian vorbei, aber nicht an uns vorüber. Schon bevor er auf unserer Höhe war, sah er zu uns und bewegte sich schnurstracks auf uns zu, um Platz zu nehmen. Er blieb vor unserem Tisch stehen und lächelte mich an. „Darf ich mich setzen“, fragte er mich auf Deutsch, ohne dass wir uns kannten oder er meine Muttersprache aus einem gesagten Wort hätte feststellen können. Mein Ehemann senkte die Zeitung und der Oberkellner kam angesaust und wollte den Fragenden vertreiben. „Lass nur. Es ist alles in Ordnung“, sagte ich zum Oberkellner, dem Freund, den ich aus meiner Alleinreise gewonnen hatte, der sich damals einen Spaß daraus gemacht hatte, „Avanti Anna, avanti!“ über den Markusplatz zu rufen. „Gern. Bitte setzen Sie sich“, sagte ich zu dem Fremden. Dieser setzte sich. „Dürfen wir Sie auf ein Glas Wein einladen?“ „Ja gerne. Danke“, antwortete er ohne ein Anzeichen der Überraschung. Der Kellner brachte den Wein, wir tranken und begannen uns zu unterhalten, obwohl er mehr von sich erzählte – weil er es wollte oder musste. Mein Silberhochzeitsgatte war längst wieder hinter seiner Zeitung verschwunden. Das Leben des Mannes, wenn es sich denn so verlief wie geschildert, war von Dramen und Schicksalsschlägen schlimmster Ausmaße gezeichnet. Ich bin es gewohnt, mehr Leid zu hören als selbst gehört zu werden und hielt seinen Redefluss am Laufen. Mein Mann sah ein einziges Mal mit gesenkter Zeitung auf und sagte: „Oh mein Gott, wann haut der endlich ab?“ Nach einer Dreiviertelstunde des Nachempfindens der Lebensgeschichte eines Fremden – wir duzten uns nach dem zweiten Satz – hielt ich das Gespräch für auskömmlich vertieft. „Du, ich würde jetzt gern wieder mit meinem Mann allein sein.“ Der Fremde, dessen Leid ich nun kannte, lächelte, senkte die Augen und erhob sich. Er bedankte sich für den Wein, wendete sich meinem Mann zu und sagte: „Ihre Frau ist eine Perle. Passen Sie gut auf sie auf.“ Er lächelte mich an und ging dann so unauffällig, wie er gekommen war. Mein Mann musterte mich von der Seite. „Was war das denn für eine Vorstellung?“ Er griff zu einer Zigarette, zündete sie an, inhalierte und blies den Rauch laut atmend aus, sah kurz weg und mich dann wieder an. Mein Göttergatte hatte so gar nichts Himmlisches in seinem Blick. Seine Augen waren vordergründig leer. Etwas Finsteres, ungeahnt Kaltes spielte sich im Hintergrund ab. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Das war ein sehr freundlicher Herr, der zufälligerweise möglicherweise Stadtstreicher ist. Bei seiner Geschichte ist es wenig verwunderlich, dass er es kaum ertragen kann.“ „Ich spreche nicht von dem Penner. Ich spreche von dir. Willst du die ganze Stadt an deinen Tisch einladen?“ Für meinen Mann war das völlig unverständlich, aber er war weder offenen Herzens sauer noch sonderlich an meinen Beweggründen interessiert. Es war eher so, als würde er eine Strichliste führen über all die kleinen Begebenheiten, die sich bei mir ereigneten, die er für sonderlich hielt. Das Maß schien voll zu sein. Er grinste mich kalt und diabolisch an, lehnte sich zurück, zog die buschigen Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. Dann stellte er den Kopf leicht schief und beobachtete das gemächliche Treiben auf der Piazza. Stunden später, in der Nacht zwischen ein und zwei Uhr, schlenderten wir noch durch Venedig. Es war nur noch sehr wenig Menschen auf den Straßen, sodass man die Schritte einzeln auf dem harten Pflaster hören konnte. Wir waren fast am Hotel angelangt, da reflektierte irgendetwas auf der Straße das Licht. Ein kleines funkelndes Objekt lag seitlich, sogar etwas abseits in einer Fuge zwischen zwei Bodenplatten auf dem Campo San Moisè. Ich beugte mich zu dem kleinen Objekt herunter und erkannte, dass es eine Perle war. Ich hob sie auf und zeigte sie meinem Mann. „Sieh mal! – Eine Perle.“ „Das ist nicht euer Ernst!“, sagte mein Mann und kommentierte im Weiteren weder das Objekt in meiner Hand noch den Fremden, der an unseren Tisch gekommen war. Ich sah mir die Perle noch einige Sekunden an und ging mit ihr in der geschlossenen Hand weiter ins Hotel. Ich habe sie noch immer. Sie erinnert mich nicht nur an einen schönen, ansonsten ereignisarmen, aber sonderbaren Abend. Es war eine angenehme Begebenheit, die mich etwas stutzig machte. – Nicht mehr. Die Perle trage ich oft bei mir oder habe sie zu Hause auf der Fensterbank. Sie ist ein passiver – ja, vielleicht dann doch ein Glücksbringer. Die Erinnerungen – die größeren wie die kleineren und die Wegstrecke machen mich froh. Die Perle selbst? Ein Symbol, unstrittig. Aber ein Zeichen? Sollen andere sich drum kümmern. Der Alltag zeigt mir genug Unerwartetes. Trotzdem—nett war’s, und hübsch ist sie. Ich liebe Überraschungen. Danke fürs Lesen! Meinungen ????

Kapitel 63: Montparnasse

Korfu Venedig Montparnasse Montparnasse Paris Ein Jahr zuvor im herbstlichen Paris, gingen mein Mann und ich mit Ansage abends in ein Bistro. Es lag direkt neben unserem alten, schmalen Stadthotel mit den auskragenden Balkonen und schwarzen gusseisernen, ornamentalen Geländern. Unser Sohn schlief nach einem Tag an der Seine, wo er zumeist von meinem Mann auf den Schultern getragen wurde. Juniors Hirn schien unterfordert zu sein. Unter der von mir gehäkelten Mütze kam ihm der Gedanke, meinen Mann mir dem Kinn auf dessen Schädeldecke zu nerven. Die Häkelmütze war das Modell: Wollreste, warm, billig, handwerklich schlecht – in verschiedenen Orange- und Brauntönen. Am Tag zuvor hatte mein Sohn, von Unternehmungslust getrieben, die glorreiche Idee, den Balkon nass zu reinigen. Er flitzte, ohne dass ich ernsthaft darüber nachgedacht hatte, mit einer Wasserflasche zwischen Bad und Balkon hin und her. Es dauerte nicht lange und es drangen französische Schimpftiraden von außerhalb an mein Ohr. Ich ging auf den nassen, hervorragend gereinigten Balkon. Unten auf der Straße, drei Geschosse unter uns stand eine kleine Gruppe von wahrscheinlich Franzosen um einen Pariser Flic, einen Polizisten. Sie winkten mir zu. Dabei wetterten sie in Landessprache auf das Eindrucksvollste. Französische Lebensart eben – einfach loslassen, was die Zurückhaltung in den meisten Situationen verbietet. Ich blickte mich um und konnte nichts Außergewöhnliches am Hotel sehen. Mein Sohn stand neben mir und winkte den Leuten zu. Der Nachweis einer unangemessenen Absicht war unmöglich. Es würde ungeklärt bleiben, ob es sein Vorhaben war, den Balkon zu reinigen und dabei mit Wasser zu spielen. Vielleicht hatte er sich überlegt, wie er an diesem sonnigen Tag die unvorbereiteten Leute auf dem Gehweg unerkannt nassmachen konnte. In Nachbetrachtung unter Berücksichtigung menschlichen, insbesondere männlichen Verhaltens liegt eine Vermutung nahe. Wie so oft hatte sich ein Spieltrieb mit einer neuen Erfahrung in ein noch ereignisreicheres Spiel gewandelt. Die Stunde im Bistro war genau das Richtige. Wir saßen als Paar im Weltstadtflair und fanden einen passenden Abschluss für den Kurztrip in die französische Lebensart. Wir sollten lernen, was es neben Käse, Baguette und Wein weiter bedeuten kann. Als wir zurück zum Zimmer gingen, drang eine Sprachkulisse sanfter Art durch die geöffnete Tür. Auf dem Bett saßen sechs erwachsene Personen; drei Paare, zwei davon Franzosen, eines waren Deutsche. Inmitten des Bettes mein Sohn sitzend und erzählte und erzählte. Er schien die lachenden Teilnehmer seines Publikums tatsächlich bestens zu unterhalten. ›Das Kind lebt!‹ ist eine Wertung, die gänzlich alle nachrangigen Überlegungen wie überschüssige Bälle auf dem Platz ins Seitenaus kicken lässt. Die Stimmung war vertraut und ausgelassen freundlich, sodass wir uns unwissend, aber fraglos dazu gesellten. Alle dann vier Paare kannten sich nicht und der Abend wurde ausgesprochen nett. Nebenbei erfuhren wir, dass unser Sohn, kaum, dass wir das Hotel verlassen hatten, im Schlafanzug auf den kleinen Flur gegangen war. Er hatte an alle Zimmertüren geklopft und vermeldet: „Hilfe, Hilfe, ich bin allein und meine Eltern saufen Rotwein.“ Irgendwie hatte er es immer geschafft, mir das Rabenmutter-Image anzuheften: Als Fünfjähriger, als der Kinderarzt vorbeikam: „Danke, Herr Doktor, dass Sie gekommen sind.“ Mir fiel die Kinnlade herunter, dass von dem Gör zu hören, das mit seinen sozial fragwürdigen Freuden gerade die Phase der auch unhygienischen Mutproben durchlief. „Was sind deine Hobbys?“, fragte ein späterer Kinderarzt den dann Neunjährigen. „Klavierspielen, Lesen und Schach“. Der Arzt sah mich verächtlich an. „Sie wollen ein Superkind und nicht sein Wohl.“ Ich stammelte irgendetwas Sinnloses, hakte den Moment ab und plante meinen anschließenden Einkauf: ›Waschpulver und eine neue Pudelmütze. Die andere hat er gestern verloren, als er im vereisten Moor seinen Spielkameraden aus dem Sumpf zog. Beide kamen verschlammt zu mir. Ach, und ich muss noch mit der Mutter des Jungen reden, der meinen Lügenbold heute auf dem Schulweg so genervt hatte. Um ihn loszuwerden, hatte Junior ihm dann weisgemacht, dass in dem Schneeball, den er gleich auf ihn werfen würde, eine Nadel sei.‹ „Was sagten Sie? Superkind? Wer will das nicht.“ Ich stellte die Sonne meines Lebens zur Rede und er erklärte mir sinngemäß, dass er Klavier spielt, Schach zumindest beherrscht, beides ohne Aufwand gern auch weiterhin in seinem Reigen an Fähigkeiten behalte, und dass selbst Comichefte Texte haben. Es war damals so einfach für ihn. nächstes Kapitel Meinungen Was ist französische Lebensart für Dich? Sonstige Bemerkungen?

Kapitel 62: Hitze und Holzschuhe

Korfu Venedig Hitze und Holzschuhe Hitze und Holzschuhe Dalmatien Ich sah runter in die Augen des neben mir sitzenden Hundes. „Bald kommt deine Oma und hütet hier ein. Ich bin urlaubsreif.“ Natürlich war der Urlaub lange geplant und gebucht. Keine zu ungewohnte Küche für meinen Mann. Tapas mit Speckmantel erhielten nach Jahren der Missachtung einen Vertrauensbonus. Er war nicht grundlos vorsichtig: Auf einer Tagung in Peking aß er vom Buffet etwas technisch mit frittierten Maultaschen Vergleichbares – und behielt es nur Sekunden in sich. Unnötigerweise hatte er mich auch über den finalen Einschlagsort des Gespuckten informiert. Es ›betraf‹ den Rückenausschnitt eines Abendkleids und das Büffet selbst. ›Irgendetwas, wo sie beschäftigt sind und sich heimisch fühlen. Es wäre schön, wenn sie neue Eindrücke gewinnen könnten und wollten.‹ Das war der Kern meiner Urlaubsplanungen für die Familie. Bei langen Autofahrten wird der Weg zum Nebenziel. So auch bei einem zweiwöchigen Hotelaufenthalt an der Adria. Es war ein Reiseziel mit Olivenbäumen, Affenbrotbäumen, Felsen, blauem Meer, Kiesstrand und gutem Essen. Der Weg dahin und zurück im orangenen Fünfer mit den Chromleisten, lieferte stärkere Eindrücke. Auf dem Pass über den Brenner wurden die Sinne umarmt. Schnell wechselnde Temperaturen, einem Kurven zwischen Ziegen, die geübt darin waren, auf Standplätzen direkt auf der Rückbank nach Nahrung zu suchen. Der absurde Imbiss hoch am Berg, ohne Sitzplätze, aber mit berauschender Aussicht war ein kulinarischer ›Hochgenuss‹. Junior grübelt noch heute darüber, wie sie die Würstchen in die Brötchen stecken konnten, ohne letztere längs aufzuschneiden. Die Fahrt auf der engen Straße durch das ehemalige Jugoslawien hatte eine Fülle von Postkartenmotiven aus Landschaft und Meer preisgegeben, dass ich mich nicht sattsehen konnte. Ging auch nicht immer. Die Furcht um meine Familie fuhr an einigen Stellen mit. Auf der einen Seite der schmalen sandigen Straße war ein zweihundert Meter tiefer Abgrund bis ins Meer und andererseits stand die ausweislich steinschlaggefährliche Felswand mit prächtigen Agaven. Ich bekam alles intensiver mit. Die flimmernde Luft und die Gerüche, die sich durch die Hitze und Kargheit zu verstärken schienen. – Es kann aber auch sein, dass der unüberholbare ungekühlte Obstlaster vor uns mit seinen reifen Früchten schon eine Weile unterwegs war. Wir sangen viel und häufig dasselbe Lied – und davon nur die erste Zeile sowie eine gekürzte, einzeilige Strophe. Es wurde keinem von uns langweilig, das Lebensgefühl immer wieder gemeinsam mit den wenigen Noten rauszuschmettern. Wir saßen spät am Abend, das Kind war bereits im Bett, in dem Restaurant der devisenbringenden Herberge zu Titos Zeiten in Dalmatien. Es lagen nur an den Sitzgruppen edle Teppiche auf dem rosa Marmor, der das moderne Haus tagsüber in ein lichtes und mit der Dämmerung elegant-preziöses Ambiente verwandelte. Objektiv und relativ gesehen war der Aufenthalt kostspielig; für uns besonders. Es war Aufbruchstimmung aus der Krise und der neue Wagen war genauso Ausdruck, dass es voranging. Die Windschutzscheibe war zwar auf der Hinfahrt bei brutaler Hitze gerissen, aber wer keine Sonne gewohnt ist, kennt auch keinen Schatten. Ich genoss den einen gerade begonnenen Abend mit meinem Mann. Die Reise war bis hierhin erlebnisreich, trotz oder gerade wegen der langen Autofahrt. Die Teilhabe kurz vor der Langeweile ist ein Leben, von dem ich gern ein größeres Stück hätte. „Aber einmal gehen wir allein ins Restaurant; nur wir zwei als Ehepaar – und wir reden weder über Kinderkrankheiten noch über meine Arbeit“, war ein jährliches Urlaubsvorhaben, das mein Mann versuchte umzusetzen. ›Einen Abend ist er nur mein Mann. Es kommt keiner, der uns stört. Der Service ist freundlich, ohne dass es zu Verbrüderungen wie in einer Dorfschenke käme. Wir können ein wenig Resümee der Reise ziehen, es sacken lassen, den Wein genießen und über Gefühle und Zukunft plaudern‹, dachte ich und eine ungewohnte, angenehme Ruhe hüllte mich wie eine Wolke ein. „Klack, klack, klack …“, wurden die Partikel der Wolke durch Schallwellen förmlich sichtbar erschüttert. Sie verzog sich mit den Schwingungen und gab den geistigen Blick frei auf das vertraute Geräusch. Es waren unzweifelhaft die Holzschuhe meines kleinen Sohnes. – Erst aus der Lobby, dann dem breiten Flur nordwestwärts zum Restaurant – und von den drei Stufen in das Restaurant auf dem Marmor hörte und erkannte es schnell. „Was macht ihr hier? Warum seid ihr nicht im Bett?“, war die berechtigte Frage eines fünfjährigen Kindes. Junior stand nur in Unterhose vor uns am Tisch, weil der Bärchen-Frotteeschlafanzug bei den Temperaturen untragbar war. Ich erhob mich, fuhr mit ihm nach oben, er zog sich an und wir kehrten zurück. – Und der Sonnenschein hatte keinen Appetit mehr. Aber die Familie war vereint. Ich hätte es wissen sollen. nächstes Kapitel Meinungen Wie ist oder war Familienurlaub im Auto für Dich? Mit Sack und Pack wegfahren oder vieles einfach mal zurücklassen? Oder beides?  Sonstige Bemerkungen?

Kapitel 61: Kamelhandel

Korfu Venedig Kamelhandel Kamelhandel Sinai Auf dem Sinai wirkte auf mich nicht nur die Landschaft ein wenig trocken und vernachlässigt. Ein Lichtblick der besonderen Art war eine Kneipe mitten im Nirgendwo. Draußen standen sauber und akkurat die Tische und Stühle. Große, rote Sonnenschirme überdecken die Sitzgruppen. Es gab einen angelegten Garten, der zwar recht trocken, aber gepflegt war. Über dem einzelnen, schmucklosen, sauberen und adretten Bau prangte ein großes Schild ›Bei Monika‹. Wie ich von Jannis dem Reiseleiter erfahren hatte, kam Monika aus Deutschland. Sie hatte sich in einen Ägypter verliebt. Monika blieb, heiratete und nahm das Heft in Form ihres Mannes und des ehemaligen Ziegenstalls in die Hand. Eine Stunde später kamen wir zu unserer Übernachtungsstelle, dem Katharinenkloster zu Fuße des Berges, auf dem Moses die Zehn Gebote empfangen haben soll. Die Truppe Gläubiger und Kulturinteressierter – ich bin beides – klapperte das Kloster ab, sah sich alles an, und sie gingen in ein nahe gelegenes Hotel, um zu übernachten. Der Nebel des Vergessens liegt über dem Grund oder Initial, wie es begann, aber ich kam mit einer Gruppe Beduinen ins Gespräch. Sie betrieben ein Lokal dort. Eigentlich wollte ich nur etwas essen und trinken und blieb die gesamte Nacht. Wir saßen auf der Terrasse am Feuer und erzählten uns von unseren verschlungenen und geraden Pfaden durchs Leben. Da es linguistisch keine minimalen Überschneidungen gab, weil wir uns nicht einmal auf Englisch einigen konnten, taten wir es mit Händen und Füßen, Geräuschen und viel Pantomime. Wir lachten, gestikulierten, tanzten und ich trank den Rotwein, den ich mir zwischendurch als Flasche aus dem Hotel geholt hatte. Irgendwann in der Nacht fielen mir unter dem Sternenzelt die Augen zu. Mit den ersten Sonnenstrahlen stand ich auf. Die Beduinenfamilie brachte mich zum Reisebus. Wir verabschiedeten uns und meine Reisegruppe war einer wie die andere so bescheuert, ungefragt Fotos von ihnen mit mir zu machen. Ich hasse es. Die Penetranz hatte sie nach einer anstrengenden Nacht wieder auf Spur gebracht. Sie waren morgens zum Gernhaben: launisch, gestresst, angeblich krank. Es gab Probleme mit der Klimatisierung und der Hygiene. Irgendwas ist immer. Ich hatte einen Abend voller, nur in Zeit begrenzter Freundlichkeit und eine milde, erholsame Nacht. Beim Fotografieren ist sich jeder selbst der Nächste. Unsere nächste Station war Taba. Das kleine ›Hotelparadies‹ liegt am Golf von Akaba in Ägypten. Israels Grenze ist nur wenige hundert Meter entfernt, nach Akaba in Jordanien sind es sieben Kilometer Luftlinie Entfernung und nach Saudi-Arabien etwas über zwanzig Kilometer. Was baut man am besten an einer solchen Nahtstelle von Kultur und Ideologie? Richtig! Eine Glücksspieloase mit Sauftempeln. Ich wäre aus den Latschen geflogen, wenn ich welche angehabt hätte. Die Stimmung war prächtig. Es wurde gespielt und getrunken, was das Zeug hielt. In den grundlegenden Dingen scheinen sich die Männer auf dem Planeten zu verstehen. Das heißt nicht, dass sich irgendwer mir gegenüber unziemlich benommen hätte. Ganz im Gegenteil. Obwohl ich mit dem Reiseleiter mittlerweile befreundet war und wir gemeinsam unterwegs waren, bekam ich Komplimente. Ein scheichmäßig gekleideter Araber fragte im besten Englisch höflich, ob er sich neben uns an die Bar in der Hotellobby setzen dürfte, und wir kamen ins Gespräch. Belanglos: Reiserouten Heimat, ich weiß jetzt nicht mehr, ob wir auch über Familie gesprochen haben. Er kam zu Recht direkt zur Sache: „Ich möchte, dass du meine Frau wirst.“ „Danke. Ich möchte aber nicht.“ „Du wirst es sehr gut bei mir haben.“ „Danke, ich möchte wirklich nicht“, sagte ich und blieb hart auf Kurs in der absurden und bis dahin amüsanten Werbung um meine Person. Er hielt es möglicherweise für etwas unhöflich von mir. Wie konnte ich diskussionslos sein Angebot direkt ablehnen? Also wendete er sich an die zuständige männliche Begleitung seines Zielsubjektes. Es war mein Reiseleiter Jannis. „Sie wird es gut bei mir haben. Ich biete dir für sie zweihundert Kamele.“ Ich war fassungslos amüsiert. Da kommt ein gut gelaunter, gut gekleideter Scheich daher und bietet meinem Reiseführer Viecher für mich. ›Der wird ihm was husten‹, dachte ich. Schließlich ist er ein kultivierter Mann und Oberst der israelischen Armee. Und er hat ein unerschütterlich aufgeklärtes Frauenbild. Jannis musterte den Scheich: „Zweihundert? Zu wenig.“ „Zu wenig? Was sagts du? Sag mir den Preis für sie.“ Nun kannte ich damals wie heute nicht den Umrechnungsfaktor von Frau zu Kamel. ›Gibt es bestimmte Klassifizierungen bei Wüstenschiffen? Ich kann mir vorstellen, dass Rennkamele, Dromedare, Trampeltiere, was eben höckermäßig unterwegs ist, verschieden bewertet werden. Was ist mit den Tieren, die ihr Haar für den nach ihnen benannten Mantel lassen.‹ Selbst wenn ich den Durchschnittspreis gekannt hätte, wüsste ich immer noch nicht den Durchschnittskaufpreis für Frauen, um das Angebot relativierend zu beurteilen. Da er mit dem Reiseführer verhandelt hatte, musste er davon ausgehen, dass Jannis Verfügungsrecht über meine Person hatte. Hätte dieser die Viecher überhaupt annehmen dürfen? Gäbe er eine Haltbarkeits- oder Gesundheitsgarantie für mich und ein Umtauschrecht? Wenn es ein Irrtum war und nicht verwandte Männer gar nicht verhandlungsberechtigt sind, würde ich die Tiere kriegen? Da ich dann selbst neuer Besitz des Scheichs wäre, bekäme er sie mit mir folglich zurück. Somit wären die Kamele nur eine Vermittlungsprovision für Jannis gewesen. ›Wie hoch ist mein tatsächlicher Wert?‹ Trotz dessen die beiden Männer sich in der Verhandlung nicht in Richtung einer Einigung bewegten, schienen sie sich prächtig zu amüsieren. Sie verhandelten hart und lachten von Herzen. Es hatte was von Casablanca und es bestand zumindest im darstellerischen Teil die Chance, dass sich der ›Beginn einer langen Freundschaft‹ entwickeln würde. Aus dem Geschäft wurde nichts und ich blieb der Reisegruppe und meinem Mann in Deutschland erhalten. Mit ihm hatte niemand verhandelt. Der hätte die Kamele auch abgelehnt. Bei einem einzigen Tier wäre die Chance höher gewesen, aber was sollte er mit zweihundert kauenden Riesen im Wald zwischen Hamburg und der Lüneburger Heide. Noch in Ägypten sollte es über die Grenze zurück nach Israel gehen. Der Grenzübergang sah abenteuerlich aus. Zwei Stationen mit Einzelkontrollen, die nach Ermessen durchgeführt wurden. Je nach Gepäck und Stimmung konnte es endlos dauern. Unser Zeitplan war gefährdet. Es

Kapitel 60: Eindrücke – in Tür und Seele

Korfu Venedig Eindrücke – in Tür und Seele Eindrücke – in Tür und Seele Israel Ich war das zweite Mal im Land meiner facettenreichen Manifestation. Bei der ersten Reise besuchte ich eine Brieffreundin. Wenn ich heute auf das an sich unscheinbare Foto des Sonnenaufgangs über dem Toten Meer mit der Palme davor blicke, werden Emotionen geweckt, die zumindest ich nicht beschreiben kann. Die Sonne ist genau ›hinter‹ den Palmwedeln und das Bild, so hübsch es ist, bleibt nur die Erinnerung an mehr. Das Gefühl, dort zu sein und vorbehaltlos vom Balkon zunächst nur zu gucken, war schnell tief, aber es nahm den Raum nicht in der Breite ein. Es war durchmengt, nicht vielschichtig; wärmend, aber nicht heiß. Es weckte andere Gefühle, als ›Sehnsucht‹ es ausdrückt. Schwerer – mit geringerer gewollter oder ungewollter Flüchtigkeit. Der Blick auf das Tote Meer war für mich wie ein Katalysator, der so vieles Gutes verstärkte, ohne die Suppe zu versalzen. Zum Beten nach Jerusalem, zum Feiern nach Tel Aviv und zum Arbeiten nach Haifa. So sagt man wohl. Für meine Person betreffend ließ sich das schnell abhaken: Ich war nicht beruflich hier. Das Feiern wollte ich generell nicht ausschließen, legte es aber genauso grundsätzlich nicht darauf an. Natürlich wird auch in Jerusalem gebetet, allerdings aus verschiedenen Richtungen. Die Stadt ist eben nicht der Schmelztiegel, in dem unter großer Hitze das Einzelne seiner Eigenständigkeit verliert. Jerusalem ist eine Ansammlung von kulturhistorisch emotionalen Pulverfässern. Irritiert war der Mönch in der Grabeskirche in Jerusalem, dem ersten Ziel meiner zweite Reise auf dem Weg zu meinem dortigen Hotel. Ich stieg aus dem Taxi aus und ging schnurstracks zur Kirche. „Hallo, Sie sind in Eile. Wo kommen Sie her?“ „Hallo. Aus Hamburg. Ich komme vom Flughafen – bin gerade gelandet.“ „Bleiben Sie länger?“ „Zwei Wochen. Busrundreise. Es geht in zwei Tagen los. Einmal durch. Tel Aviv, Haifa, See Genezareth, ein Kibbuz, dann Negev, Sinai und der Golf von Akaba – und wieder her.“ „Ich verstehe. Zwei Wochen. Direkt vom Flughafen also. Und wo ist der Rest ihr restliches Gepäck?“ „Auf dem Weg ins Hotel.“ Er sah mich verständnislos an. Vermutlich hielt er mein Handeln für unpassend, ungewöhnlich, vielleicht sogar naiv. „Mein Gepäck ist im Taxi. Ich bat den Taxifahrer, es im Hotel abzugeben.“ „Es ist ein Wagen vom Hotel, oder?“ „Nein, das Taxi stand am Flughafen. Keine Sorge, ich habe beim Aussteigen gefragt, was es kostet und bezahlt.“ „Ich verstehe“, sagte der koptische Mönch und ich bin mir im Nachhinein nicht sicher, ob er es wirklich tat. Israel ist so spannend und so direkt. Voll von Gefühlen und Historie. – Ein Klassentreffen unterschiedlicher Gesinnungen. Aber ohne dass – gleich einem Schmelztiegel – eine Vereinheitlichung im Gemeinsamen –wie in New York – entstünde. Die Gemeinschaft ist heterogener als im „Village“. Volle Kanne. Da wird man sich doch nicht mit den nicht lebenslangweiligen Trivialitäten wie den Bedenken um die Glaubwürdigkeit eines Menschen anlässlich der Verbringung von Koffern mit Klamotten und Hygieneartikeln beschäftigen. Der Alltag ist von Spannungen und Liebe, von Furcht und Feier, von Wut und Versöhnung geprägt. Koffer? Natürlich ist der im Hotel gelandet. Papiere habe ich immer bei mir. Großspurigkeit war es auch nicht. Naivität? – Nein. Die Risiken waren abschätzbar. Freiheit von Angst ist wertvoller als mein Lippenstift. Die Grabeskirche ist fantastisch. Die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, geeint im Glauben, getrennt in ihrem Wettbewerb um den besseren Weg in besinnlicher Kontemplation. Sie wird abends zugeschlossen. Es war nicht meine Idee – der Mönch lud mich ein dortzubleiben, und ich ließ mich mit den Geistlichen einschließen. Eine Nacht mit den Mönchen in dem Labyrinth von Gängen und Zimmern. Eine Nacht der aufgeregten Ruhe. Ich war bei den koptischen Christen zu Gast. Natürlich bin ich in Jerusalem wie überall reichlich zu Fuß unterwegs gewesen. In der Altstadt, im muslimischen Quartier unweit der Via Dolorosa wurde ich begrapscht. Bei all der Offenheit, die meinen Geist umgibt – der feste Griff an mein Hinterteil ist nachweislich nicht die beste Voraussetzung, um von mir mit einer Charmeoffensive zu rechnen. Ohne mich umzusehen oder Zeit für Entrüstung zu gewinnen, drehte ich mich sofort mit Schwung und langte dem Kneifer voll ins Gesicht. Der gestandene Mann Ende zwanzig heulte auf und verzog sich nach hinten in seinen Laden. Am nächsten Tag an der gleichen Stelle zu ähnlicher Zeit stand er wieder vor seinem Geschäft und hielt sich die geschwollene, deutlich rote Wange. Neben ihm war sein Vater, der ihn zwang, sich bei mir zu entschuldigen. Dieser tat es ohne viele Worte. Die Szene sagte alles. „Salam.“ „Salam.“ „Salam.“ Beinahe wäre ich noch zum Tee eingeladen worden. ›Männer‹, dachte ich. ›In der Geisteshaltung sind sie sich ähnlich. Überall auf der Welt. Wenn die nicht so bescheuert wären, bräuchte ich keine Feministin zu sein.“ Ich war wieder sehr weit gelaufen und wollte in Jerusalem zurück zum Hotel. Als ich mir ein Taxi rief, warnten mich zwei mit Maschinenpistole bewaffnete Polizisten, die an der Straße standen, davor, unvorsichtig zu sein. Ich sollte nicht in x-beliebige Fahrzeuge steigen. Dem Hinweis schenkte ich keine weitere Aufmerksamkeit und doch wurde es etwas sonderbar, als der arabische Taxifahrer begann, lautstark seinen Fahrgast – mich – zu beschimpfen. Was musste ich mir da alles anhören? Die übelsten Hasstiraden und Beleidigungen, die er mir als Christin, Mensch und Frau auftischen konnte, kamen aus ihm herausgespuckt. Den in Arabisch geschrienen Teil seiner Anfälle verstand ich nicht. Mein Arabisch ist auf nahe Null. Schreibend reichte es zur Darstellung meines Bemühens mit einigen geschriebenen Versen bei Brieffreunden. – Eine Frage der Höflichkeit und des guten Willens. – Es ging auch andersrum: Eine amerikanische Brieffreundin nutzte vor Urzeiten einen der ersten automatischen Übersetzter, um mir auf Deutsch zu schreiben und auch andere Texte zu senden. Es waren ausgerechnet Predigten und die Übersetzung war unmöglich zu verstehen. Nicht einmal interpretieren konnte ich den Vokabelmüll. Die Texte waren zusammenhangsloser Blödsinn ohne Satzbau. Sie bestand auf die neue Technik und ich machte von meinem Verweigerungsrecht Gebrauch. Der Taxifahrer in Jerusalem schien zu wissen, was er schrie und pöbelte. Das mir unverständliche Geschreie hatte

Kapitel 59: Pilzgerüchte

Korfu Venedig Pilzgerüchte Pilzgerüchte Erding und Regensburg ♥ Mitten in Erding, an der Hauptstraße im Zentrum, beste Lage, bestes Haus mit bester bayerischer Küche. Ich saß vor dem luxuriösen Dorfgasthof und die oberbayerische Speisekarte hätte ich rauf und runter essen können – und schickte mich an, es zu tun. Statt mich zu ärgern, zu grübeln oder zu hinterfragen, habe ich in der Abendsonne Unmengen von Essenwünschen geäußert. Das Timing war nicht unhöflich von mir, denn auf meine beiden Kleinen brauchte ich nicht zu warten. Sie kamen sowieso nicht pünktlich. Wenn sie sich nicht an Verabredungen hielten, brauchte ich es ebenso wenig. Bayerischer Wurstsalat, Knödel mit Pfifferlingen und als meine Familie kam, bestellte ich mir gerade eine halbe Ente. Mit dem Kellner war ich schon per ›du‹. Ich war entspannt. Die Mass honiggelbes, bayrisches Bier vor mir löschte alle Inbrunst. „Joa Servus, dun langst joa richtig hin. Dass du des ois ibahaupt schaffen duasd. Ma siht es dia ibahaupt ned an.“ „Lass` die Karte bitte hier, ich hab noch gar nicht richtig angefangen.“ Das war kein Frustessen, sondern ein Abschiedsessen. Ich verabschiedete mich von dem Gedanken, dass es gut ausgehen würde. Die beiden Verlobten kamen runter, bestellten und Junior humpelte gleich weiter. Er suchte eine Apotheke. Schmerzmittel, Klebeband, Fleckenreiniger für die blutigen Schuhe, …; ich habe keine Ahnung, was er holte. Katja überlegte, auch die Pfifferlingspfanne zu nehmen. „Die Pfifferlinge sind gut. Die hatte ich vorhin.“ Ich konnte ihr nur beipflichten, während mir bei der halben Ente vor meiner Nase der flüchtige Gedanke kam, dass ich möglicherweise doch ein winziges Stückchen übers Ziel hinausgeschossen war. „Ja, Anna, ich werde versuchen. Meine Muutter hat Pilze gesammelt und getrocknet. Sie bringt mit als Geschenk zur Hoochzeit; grooßes Glas.“ ›Erdboden tu‘ dich auf. Auch das noch. Warum drückt ihr mir euren Mist in meine Mülltonne? Denn dahin gehören die ach so gut gemeinten Eindringlinge.‹ Es mag eine Überempfindlichkeit sein und Gesten der Verbundenheit sind wunderbar. Das Einwirken auf meine Haushaltsführung ist für mich, als würde bei einem Automechatroniker der Nachbar vorbeikommen und das ganze Werkzeug in der Halle neu sortieren, umstellen und austauschen. Das alles nur, um seinen Fußabdruck zu hinterlassen. Meine eigene Schwiegermutter beschenkte uns neben Ratschlägen und Rezepten ständig mit selbst gemachter, grober Leberwurst. Sie hatte weder Hausschlachtungen noch einen Hof. Trotzdem bekam ich immer diese Einwegleser mit einer wieder vitalen Masse darin. Das Tier, das garantiert nicht vor so kurzer Zeit seinen Tod fand, entfachte ungekühlt millionenfach neues Leben. Bei meiner Schwiegermutter handelte es sich auch um die Frau, die sich eine Pilzvergiftung zuzog nach dem Selbstsammeln. Es war dieselbe Schwiegermutter, die es überraschte, was in dem Gänsekörper steckte, nachdem sie ihn aus dem Backofen geholt hatte. Sämtliche in Plastiktüten abgepackten Innereien waren noch drin. Zumindest rührte sie angeblich nicht so lieblos um, wie ich. ›Und jetzt kriege ich, die ich mir keiner Schuld bewusst bin, auch noch Geschenke von der zukünftigen Schwiegermutter meines Sohnes. – Pilze aus Weißrussland. Besser könnte es kaum sein. Da geht mir das durch Tschernobyl verstrahlte Nachbarherz auf. Nein, sie soll das Glas zu Hause lassen.‹ Ich sammelte mich im eigenen Glas, allerdings ohne den Deckel zu schließen. „Danke deiner Mutter vielmals. Aber nein danke. Sie soll bloß keine Pilze mitbringen.“ „Doch Aaanna, ich denke, du musst es nehmen, weil es Geschenk ist, mit Libbe.“ „Ich will die Pilze nicht, und ich muss gar nichts. Und von deiner Mutter nehme schon den ganzen Tag keine Geschenke an. Ich will mit der Frau absolut nichts zu tun haben. Heiratet, aber lasst mich mit der Verwandtschaft in Ruhe.“ ›Oha‹, ich dachte, die Kleine sei kalt wie eine Hundeschnauze. Falsch gedacht. Wenn es um ihre eigene Mutter ging, kochte jetzt tatsächlich ihr das Blut. Sie schwieg und ihr Blick war eisern. Mein Sohn kam zurück aus der Apotheke. Er setzte sich und erlebte, wie Katja mir den Verlobungsring – meinen – zurückgab. Es war der Ring, den ich ihr vor der Reise schenkte, um sie in der Familie willkommen zu heißen und ihr mein Vertrauen auszusprechen. „Anna, ich denke, ich brauche nichts von dir. Ich gebe zurück. Du bist sehr unfreundlich zu meiner Muutter. Du bist wie meine Großmutter.“ ›Hoppla. Da liegt der Hund mit dem Omaproblem begraben. Das ›U‹ fällt bei der ›Großmutter‹ auch deutlich kürzer aus‹, dachte ich und reagierte schnell, bevor ich mir mit Deutungsversuchen noch mehr von etwas aufhalste, womit ich nichts zu tun haben wollte. „Danke, ich hätte ihn dir nicht geben sollen.“ Junior betrachtete das Schauspiel. Er saß neben seiner zukünftigen Frau. Er hatte sich auf der Biergartenbank etwas seitlich gesetzt. Wie beim Tennis wollte er die Flugbahn des Balls im Moment des jeweiligen Schlages erahnen. „Seid ihr so weit durch? Was heißt das jetzt? Ist die Hochzeit abgeblasen, bevor wir einen Termin haben?“, fragte mein Sohn und er war noch frei von Schmerzmitteln und nüchtern. Psychopharmaka werden sie ihm in der Apotheke nicht gegen die kaputten Latschen, die ich irgendwann zur Welt gebracht hatte, gegeben haben. Damals waren es Füße. „Schaatz, nein. Du bist mein Maaan. Aber ich möchte nicht, wenn deine Muutter denkt, dass ich etwas von ihr brauche.“ Mein Sohn sah in die Runde und war – hellauf begeistert. „Das ist klasse. Die sind Fronten geklärt. Wir sind alles verschiedene, selbstbestimmte Menschen. Jeder macht sein Ding und wir arrangieren uns, wo und wenn es nötig ist. Das Letzte, was ich möchte, ist, dass es Streit gibt. Super, das hätten wir. Jetzt können wir komplett von vorne anfangen.“ Am nächsten Tag fuhren wir morgens zum Flughafen. Sie flog weg und mein Sohn und ich schwiegen uns an. Es ging nicht ganz ohne Kommunikation, denn statt in einem Rutsch von München bis Hamburg durchzujagen, blieben wir in Regensburg hängen. Massivste Bauarbeiten auf der Autobahn und in einem ausgedehnten Bereich auf Bundes- und Landstraßen ließen uns im Stau auf Feldwegen etliche Stunden stehen. Wir waren froh, spät noch zwei Zimmer in der Nähe vom Bahnhof zu bekommen. Ich kannte Regensburg nicht, aber erstens wollte ich den Humpelheini schonen. Er konnte jetzt, da

Kapitel 57: Muchos Nachos

Korfu Venedig Muchos Nachos Muchos Nachos Pescara ♥ In Pescara lief es, wie es laufen sollte. Herzlich, höflich – unaufgeregt. Junior hatte zwar die üblichen Startschwierigkeiten im Small Talk, aber er fand sich rein. Katja war betont cool, außer wenn sie mit mir oder meinem Sohn sprach. Junior hatte abends einen neuen Freund gefunden. Ausgerechnet Thomas. Die beiden verstanden sich sofort und diskutierten über Themen, die sie beide brennend interessierten. Sie tranken ein Glas Wein nach dem anderen und verinnerlichten ihre Qualitäten als globale Problemlöser. Die Bar wurde leerer und ich saß auch vorher bei einer anderen Gruppe und ging bald zu Bett, nachdem ich Katja eine gute Nacht wünschte. Sie saß noch auf einem Barhocker neben meinem Sohn und Thomas, die – wie ich später hörte – keine Anstalten machten, sie in die ›Fachgespräche‹ mit einzubeziehen. Irgendwann ging auch sie. Am nächsten Morgen kamen schlechte Schwingungen aus der Ecke der Liebenden. Junior sah nur leicht übermüdet aus. Katja war sauer. „Na, was ist los?“, fragte ich. „Was soll los sein?“, antwortete mein Sohn. „Gut, Katja ist etwas sauer, weil ich nicht gleich mit ihr hochgegangen bin.“ „Schatz, ich habe gewartet. Du bist gekommen vier Uhr“, sagte Katja. „Hatte die Bar so lange auf?“ „Nein. Gut, wir waren da, aber der Barkeeper ist gegangen. Der Nachtportier brachte uns Weinflaschen als Nachschub.“ „Flaschen?“ „Schatz, du warst betrunken.“ „Liebling, chemisch gesehen bin ich es noch immer.“ „In dem Moment kam Thomas aus dem Fahrstuhl – mit völlig schwarz getönter Sonnenbrille. Das der in der Lobby überhaupt was gesehen hatte. Er kam zu uns schweren Schrittes.“ Mein Sohn grinste ihn an. „Mann, wie gehts? Was soll die Brille?“ Thomas lächelte geschafft, hob die Brille kurz an und seine Augen zeigten einen Erschöpfungszustand der erschreckenden Art. „Behalt sie auf“, sagte Junior. „Tom, wir müssen das mit dem Nachoautomaten noch regeln.“ „Ich kenne keinen“, sagte dieser, grinste und ging. Ich fragte nicht. Nur wenige Stunden später sah ich seitlich in der Lobby das einem Kaugummiautomaten ähnelnde Ding für Nachos. Der Behälter war unfachmännisch geöffnet und die Chips weg. Wahrscheinlich passierte es bei den Themen Welternährung und Nachhaltigkeit. Den beiden vollschlanken Weltverbesserern waren beim Futtern die Münzen ausgegangen. Für jeweils nur eine Handvoll Nahrung aufzustehen und durch die Halle zu laufen, wollten sie nicht. Sie nahmen gleich den Automaten mit. „Katja, was soll ich sagen? Du hast vor, einen Mayer zu heiraten. Ich wünsche die ein glückliches Händchen.“ „Aaana, er wird lernen.“ Das Meeting musste ein voller Erfolg werden – denn die Resultate waren nicht objektiv messbar. Wenn man es allerdings als klassisches Netzwerken betrachtet, war es grandios und sinnvoll, um im Tagesgeschäft mit den anderen schneller in die Pötte zu kommen. Wir reisten mit erwarteten Ergebnissen von der Tagung ab. Noch zwei Nächte waren es bis zu Katjas Abflug aus München. Die vorletzte gemeinsame Station auf einer Rundreise mit gemischten Gefühlen und Eindrücken wurde Verona. nächstes Kapitel Meinungen Ich bemühe mich um Höflichkeit und Zurückhaltung. Junior ist da sehr viel – ungefragt – direkter. Wie hälst oder siehst Du es? Sonstige Bemerkungen?

Kapitel 56: Herr Mayer, na, wir haben was erlebt.

Korfu Venedig Herr Mayer, na, wir haben was erlebt. Herr Mayer, na, wir haben was erlebt. von Palma nach Hause Es sollte ein Nachspiel haben. Nicht dass ich nicht einer Papstaudienz teilgenommen hatte, sondern ein Aufreger aus dem zufällig illustren Kreis, in den ich in der Bar aufgenommen wurde. Einer der adligen Teilnehmer war von größter Freundlichkeit und ich tat ihm gut, wie er sagte. Ich wusste nicht, dass es meine vornehmste Aufgabe war, in meinem Urlaub fremder Leute Bauchgefühl zu erwärmen. Seine Frau war vor Jahren verstorben und er jammerte ein wenig, weil er gerne seine Burg oder Schloss oder auf jedem Fall eine alte Kiste auf dem Land irgendwie nutzen wollte, aber nicht konnte. Er hatte weder wirklich Interesse, das Teil auf Vordermann zu bringen, noch Ideen, wie er es nutzen sollte. ›Das sind Probleme.‹ „Kultur geht immer“, sagte ich zu ihm. Mach doch so etwas wie Festspiele. Leider fand er die Idee grandios und wollte mich gleich einbinden. Nicht nur in Sachen Kultur, sondern auch auf der häuslichen Ebene. Und das so, wie ich’s in meiner nicht vorhandenen Fantasie mir nicht vorstellen konnte. Wirklich auf häuslicher Ebene: „Das bist du Anna. Du würdest in Gummistiefeln rumlaufen und mir auch noch ein Kuchen backen.“ „Ja, klar würde ich das. Was ist dabei?“, antwortete ich in dem Maße, dass ich es für normal hielte, wenn es eine Frau gäbe, die ihn liebte und das für ihn gerne täte. Leider war es um ihn geschehen. Er hielt mich für diese Frau. Drei Wochen später. Norddeutsche Tiefebene zwischen Hamburg und der Lüneburger Heide. Kind in der Schule oder beim Sport. Mann bei der Arbeit. Ich und meine Haushaltshilfe um die Wette beim Fensterputzen. Ich war schneller, sie war streifenfreier. Das Telefon klingelte und ich erkannte die Stimme. Es war der Adlige, der mit mir Kunst und Kuchen machen wollte. – Mit mir als seiner Frau wohlgemerkt. „Hallo Anna, pack deine Sachen und komm mit. Du kommst mit zu mir. Du bleibst bei mir.“ „Spinnst du? Wie kommst du darauf? Und was heißt: ›Pack deine Sachen und komm mit‹? Wo bis zu denn?“ „Auf dem Hamburger Flughafen ich bin mit meinem Jet hier. Ich warte auf dich.“ „Du spinnst wohl. Kommt überhaupt nicht infrage.“ Ganz ehrlich, im Nachhinein habe ich das eine oder andere Mal darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wenn ich ›Ja!‹ gesagt hätte. Der Mann war garantiert leichter zu managen als meine Familie von Alphatierchen. Auf der anderen Seite sind Kitsch und Betroffenheit auch nicht so richtig mein Ding. Wie man’s macht, und ich hatte es gemacht und mich entschieden. Ich habe ihm dann unmissverständlich klar gemacht, dass jegliche Form der Bemühung ausgeschlossen ist und erfolglos sein würde. Er akzeptierte und ich hatte nie wieder was von ihm gehört. Männer. So sind sie. Ergreifen Initiative und betreiben einen Aufwand, der was mit ihnen zu tun hat. Aber sie verzichten dann darauf, kreativ zu sein, um doch noch ein Ziel zu kommen. Ich spreche – das muss man in heutiger Zeit deutlich sagen – nicht von Nötigung oder Stalking. Aber das Bewerben um eine Frau sollte inhaltlich mehr sein als eine Blechbüchse in der Luft, angetrieben von ein paar Gallonen Flugbenzin und das Sehnsuchtsbild von selbstgebackenem Kuchen. Mein Mann kam nach Hause und wir waren gerade mit den Fenstern durch. Als Letztes hatten wir uns die gewaltigen Schiebetüren vorgenommen. Wir stiegen von den Leitern und meine Haushaltshilfe begrüßte mein Mann: „Herr Mayer, na, wir haben heute was erlebt. Ihre Frau macht Sachen“, und dann begann sie zu erzählen. Ich sagte kein Wort. Sie hatte zuvor meinen Teil des Gespräches mitbekommen. Das reichte. Den Rest erzählte ich ihr, weil sie nicht lockerließ. Mein Mann war außer sich. – Vor Begeisterung, wieder eine Geschichte zu haben, die er bei seinen Kumpels rumerzählen konnte. Keine Eifersucht, kein Zweifel, keine Überlegung, selbst vielleicht mit Blumen vorbeizukommen. Es kam jemand mit Privatjet, der ETWAS wollte, das ihm schon gehörte. Mich. Super. Ganz toll, Jungs. nächstes Kapitel Meinungen Ist das ein Ding, nur weil ein Kavalier mit dem eigenen Jet – sagte er – kommt?  Ich hätte es auch erzählt, wenn er mit dem Fahrrad gekommen wäre. Bei mir sind das Einzelfälle, für die eine Hand zum Zählen reicht. Und bei Dir? Sonstige Bemerkungen?

Kapitel 55: Stilfragen

Korfu Venedig Stilfragen Stilfragen Palma de Mallorca Die Hotelbar des Victoria in Palma de Mallorca am Paseo Maritimo war ein Organismus. Als Bar an sich mochte ich das Abaco in einem Stadthaus in der Altstadt von Palma lieber. Alte Gemälde, Blüten, Berge von Südfrüchten, Silbertabletts, Hühner und Tauben im Innenhof und klassische Musik. Trotz meiner Abneigung für Käfiggeflügel auf öffentlichen Plätzen störte es mich im Abaco nicht. Aber ich saß dort auch nicht draußen bei ihnen, wie auf der Piazza delle Erbe in Verona. Im Victoria war die Hotelbar eher wie ein Mini-Nightclub. Mengenmäßig und von der Schlagkraft her war sie dominiert von englischen Urlaubern. Verschiedene Gruppierungen waren anzutreffen. In großer Naivität und Unvoreingenommenheit hatte ich mich der Erstbesten angeschlossen und wurde mit den Teilnehmern schnell vertrauter. Die Gruppe hielt sich auch für die beste und ich werde den Eindruck nicht los, dass die anderen Grüppchen und Einzelpersonen es genauso sahen. Wir trafen uns jeden Abend in der Bar, nachdem ich Palma wie üblich zu Fuß erkundet hatte. Der Hotelpool war die Liegen betreffend, zwar gut besucht, aber keine meiner Bekannten legte es auf einen ausgedehnten Badeurlaub an. Auch ich hatte mir eigentlich vorgenommen, keine Zeit mit Braten zu verbraten. Zugegeben, zwei-, dreimal lag ich auch am Pool. Vielleicht taten mir die Füße weh oder ich hatte irgendeine andere Ausrede fürs Nichtstun. Ein junger Mann mit Vokuhilafrisur und seine Freundin oder Frau gleichen oder jüngeren Alters hatten die Ligen neben mir. Er mit ausgespiegelter Sonnenbrille machte auf cool, war aber ein kleines freundliches Kerlchen. Seine Gefährtin hatte mit ihren Fußnägeln zu tun. Eifrig war sie mit Nagellackentferner und später mit Lack an ihnen zu Gange, die Zehen durch reichlich Watte in den Zwischenräumen gespreizt. Es gibt Momente, da kommt alles zusammen, wie die Entrüstung und das Fremdschämen bei einer Entgleisung von sämtlichen minimalen besseren Benimmregeln. Es gefiel mir überhaupt nicht. Dennoch konnte ich nicht als anders, als gebannt zu verfolgen, wie sie Nagellackentferner auf die Wattebäusche auftrug, auf den lackierten Nägeln rubbelte und die gebrauchte Watte nonchalant neben der Liege fallen ließ. Es war wirklich nicht schön anzusehen, und alles sträubte sich bei mir dagegen, während meiner Augen an der Szene kleben blieben. Das ist, als hätte man ein Pickel in der Nase. Es juckt etwas, und wenn er ignoriert wird, vergisst man es wieder. Aber nein, stattdessen pult man an dem Störenfried, wissend, dass ein kleiner stechender Schmerz einem bis unter die Kopfhaut jagt. Das Paar schien nicht nur die Haare betreffend auf einer Wellenlänge zu sein, denn sie kauten beide im gleichen Takt mit halbgeöffneten Mund Kaugummi. Ich weiß nicht, was gefehlt hätte, um das Bild in Form eines Gemäldes als gesellschaftskritische Momentaufnahme einer Zeit und Lebensart darzustellen. Drinks? Waren da; er hatte einen Gin Tonic, sie irgendetwas Buntes mit Schirmchen und einem dicken rot-weiß geringelten Strohhalm in der farbenfrohen Fruchtsoße, in der auch Ananassaft und Granatapfelsirup nicht fehlen durften. Sonnencreme? Natürlich nicht. Stattdessen der halbrunde Reflektorschirm, den sie sich nach getaner Arbeit auf das silikon-künstlich erhöhte Dekolleté gelegt hatte, um ihrem Gesicht noch einen intensiveren Bräunungskick zu geben. Frisuren? Voll im Trend. Lang blondiert wirr, er hinten strähnig-dünn, sie Dauerwelle und beide Unmengen von ultrafestem Gel oder Haarspray zur Manifestierung ihres guten Geschmacks. Kleidung? Perfekt: Er trug gemusterte, sehtesttaugliche Boxershorts, und sie begnügte sich mit neonorangenen Schnürchen und einer winzigen Abdeckung für den Schambereich. Auch die beiden saßen abends in der Bar, aber meine Leute wollten „nicht so viel“, also überhaupt nichts, nie im Leben mit dem Sänger und seiner Partnerin zu tun haben. – Alle außer mir. Der Name sagte mir nichts, die Person hatte ich noch nie gesehen und auch Liedtexte oder Titel kannte ich nicht. Dachte ich. Keiner von meinen Bekannten in der Bar wäre auf den Gedanken gekommen, eines seiner Lieder zu trällern, damit ich es erkannte. Anders mein Sohn später zu Hause. Ich beschrieb den Mann und Junior wusste sofort, wer gemeint war, allein wegen des Aussehens. „Mensch Mutter wie wär’s damit:“ Der Jugendliche schmetterte einen Song los. Junior konnte singen – glockenhell – vor seinem Stimmbruch. Wenn er als Teenager unter der Dusche sang, wollten selbst die Badezimmerkacheln flüchten. Er hat das absolute Gehör – behauptet er – und es mag sein, dass er jeden Ton kennt, aber weder musikalisch noch zwischenmenschlich trifft er den richtigen. Ich blickte ihn verdattert an. „Mum, ich habe dir das fürs Auto aufgenommen. Du trällerst ständig mit.“ Dann nannte er nur einen Titel und wippte dabei mit dem Kopf, ohne dass meine Gedanken wegen einer wandbildenden Gesangseinlage zerplatzten. Ich kam drauf. Allabendlich saß in Palma auch ein älteres Paar allein in den englischen Polstermöbeln an einem Cocktailtischchen. Sie sahen sehr vornehm aus und waren vom Aussehen her mit großer Wahrscheinlichkeit auch Engländer. – Und sie schienen sich selbst genug zu sein. Das Paar unterhielt sich höflichst einfühlsam und angeregt. Sie gefielen mir, und ich ging hin, um mit Ihnen zu plaudern. Wir sprachen über Palma, Mallorca, unsere Familien und sogar das Wetter in unseren Heimatländern. Sie kam tatsächlich aus England. Nach angemessener Weile und einem Gespräch des zartesten Umgangs verabschiedete ich mich wieder zu meiner Gruppe. Prompt bekam ich einen Anranzer: „Anna, was hast du denn bei denen gemacht?“ „Ihr habt sie wohl nicht alle. Das sind so nette Menschen und ihr lasst sie allein sitzen. Die alten Leutchen wären bestimmt gern zu uns gekommen. Ihr habt sie nur verschreckt. Man kann sich mit ihnen total nett unterhalten. Für wen haltet ihr euch denn? Für was Besseres? Das ich nicht lache.“ „Anna, das sind der Lord und die Lady of ›Sagichnicht‹, da geht man nicht einfach hin. Da hält man respektvoll Abstand. Typisch Anna, du würdest selbst der Queen ein Küsschen links, Küsschen rechts geben und fragen, wie es den Kindern geht.“ „Es doch normal. Was bitte soll daran was Besonderes sein.“ „Anna, das macht man einfach nicht.“ Heute nennt man es wohl Netzwerken. Und vermutlich kann ich das ziemlich gut. Was interessiert es mich, warum die Leute sich vorher aus dem Weg gegangen

Kapitel 54: Meet and Greet

Korfu Venedig Meet and Greet Meet and Greet Pescara ♥ Katja, Junior und ich frühstückten in Amalfi vor dem Dom. Auf der Küstenstraße ging es dann ein Stück weiter, um zur Autobahnauffahrt zu gelangen. Genaugenommen fuhren wir den uns ab Ravello noch unbekannten, zauberhaften Rest den Amalfitana. Das junge Glück hatte sich geeinigt, Capri irgendwann nachzuholen. Sie wollten sich nun dem eigentlichen Anlass der Reise, der Veranstaltung in Pescara ohne Verspätung zuwenden. Außer einem Stopp zum Tanken und für den Kauf von ein paar Sandwiches, Panini und Getränken hielten wir nicht mehr. Wir fuhren durch bis nach Pescara. Ich hatte meinen Sohn vor der Reise noch nie Energydrinks konsumieren sehen. Auf den paar tausend Kilometern dieser Tour tankte er das Fruchtgummiwasser, als sei es Brennstoff. Pescara, die Perle der Adria? Ich scheine mich nicht zu erinnern. Aber ich habe auch zu wenig von dieser Stadt gesehen. Unser Hotel war ein Strandhotel, etwas außerhalb. Auf dem Weg dorthin fuhren wir stadtseitig an Hotels vorbei. Strandseitig waren Vergnügungsbereiche unterschiedlicher Spielart. Egal, wir hatten ein Geschäftstreffen, bei dem es nicht um Geschäfte an sich, sondern um den Austausch ging. Es gab nichts zu verlieren. Und nichts zu gewinnen, außer der Intensivierung bestehender und der Knüpfung neuer Kontakte. Junior und ich traten zwar zusammen auf, teilten uns dann aber die Zuwendung zu den zweihundert Teilnehmern auf. Bei mir war es einfach. Ich kannte sie schon aus Dubai, New Orleans und New York. Mit etlichen war ich bekannt, mit einigen sehr vertraut und mit Thomas aus Nigeria befreundet. Jede Form von ethnical correctness ignorierend, fragte ich Thomas bei unserem ersten Treffen: „Deine Haut sieht toll aus. Darf ich mal anfassen?“ Er grinste und hielt mir seinen ultraschwarzen Arm hin. Es war nicht die Farbe allein. Seine Haut sieht anders aus. Sie hat etwas Ausdrucksstarkes und wirkt weniger durcheinander und weniger schreckhaft als meine. „Deine Haut ist ja total fest und stabil“, sagte ich, während ich an seinem Unterarm versuchte, Falten zu zupfen. In Pescara war er auch und wir umarmten uns wie alte Freunde, die wir trotz der wenigen Begegnungen sind. Es war alles harmonisch und auch mit den anderen lief es wie immer. Es gab nur einen Störfaktor: Herr Mayer war dabei. Sie kannten ihn bisher nur aus dem Schriftverkehr und aus Videokonferenzen. Das war weniger anstrengend für die armen Menschen, die sich auf ein entspanntes Treffen unter Freunden mit gemeinsamen Strategien und gemeinsamen Erklärungen gefreut hatten. In der Sache war Junior auf der Höhe, wie er es in zahllosen E-Mails und Rundschreiben zum Besten gegeben hatte. Bei Videokonferenzen versagte er verzeihlich bei der Einleitung. „Ich bin doch nicht bei der Punktevergabe eines Schlagerwettbewerbs und vergebe erst mal sinnlose Komplimente“, sagte er zum Glück nur im privaten Kreis. Bei Besuchen ausländischer Gäste waren es entweder reine Geschäftstermine – das kann er, behauptet er – oder es ging um den Aufbau von Beziehungen. Von sensibler Annäherung und Feingefühl in der Dosierung der Gesprächsinhalte hat Junior keinen blassen Schimmer. So hatte ich die vornehme, allseits dankbar angenommene Aufgabe, sie einander vertraut zu machen. Bei Schönwettergesprächen übernahm ich, bevor Herr Mayer mit einem trockenen Kommentar für Unverständnis sorgte. Wer mit ihm ernsthaft über die Arbeit sprechen wollte, fand Gehör. Und wer eines seiner Lieblingsthemen aufgriff, brauchte eine gute Ausrede, um da wieder rauszukommen. Ich moderierte. Aus seiner Meinung: „Das soll ein Vertrag sein? Das ist geschriebene Luft!“ wurde: „Schön, dass wir eine gemeinsame Basis für die Zukunft gefunden haben.“ Aus: „Ich habe die Lösung. Ist erledigt!“ wurde: „Deine Meinung interessiert uns brennend.“ Aus: „Nein!“ wurde: „Eine wunderbare Idee. Wir wissen noch nicht, ob wir das in unsere Arbeitsweise direkt implementieren können. Wir sollten den Punkt gemeinsam bis zum nächsten Treffen noch etwas vertiefen.“ – Eigentlich passte es genau so. Es war Arbeitsteilung. Da Junior und ich Kollegen waren, traten wir auch gemeinsam auf. Die Abläufe waren klar. Tagsüber fanden zunächst Präsentationen statt. Dann traf man sich in Arbeitsgruppen. Am Ende wurden vorzeigbare Ergebnisse auf der Schlussveranstaltung präsentiert. Wie üblich wurden auch untereinander bereits abgesprochene Verträge geschlossen. Erklärungen des gegenseitigen Verständnisses wurden feierlich unterzeichnet. Abends ging es dann in die Hotelbar. Das lockere Treffen an der Bar und auf der zugehörigen Terrasse mit Variationen der plastikgeflochtenen Loungemöbel gehörte dazu. Es wurde dann noch privater und Grüppchenbildungen förderten zumindest die gefühlte Vertrautheit. Junior und ich sind da völlig verschieden. Er setzt sich – und bleibt sitzen. Ich wechsle die Gruppen aktiv, weil ich alle Personen kennenlernen möchte und gleichfalls niemanden belagere. Die Trennung – auch die gewollte Trennung von Gruppen unterschiedlicher Gesinnung oder gar ›Klassen‹ ist für mich ein Unding. Andere halten sich an unausgesprochene Regeln. Ich liebe Spannung. nächstes Kapitel Meinungen Was macht Palermo für Dich besonders? Was stört Dich an der Stadt? Sonstige Bemerkungen?

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