Brieffreundschaften
Wald und Welt
Mein Weg zur Straße war eine ungezählt geringe, witterungs- und befindlichkeitsbestimmte Anzahl von Schritten mit sicherem Ziel und unsicherem Ausgang. Hier war der Ort, wo sich so vieles abspielte, was mit mir zu tun hat: Familie, Freunde, Haustiere. Einzeln und zusammen. Feiernd wie zu Sylvester, als dann auch noch der Neufundländer eine Rakete mit brennender Lunte aus der Startanlage der leeren Sektflasche zog. Er war wutentbrannt und nur wenig beeindruckt, als die Leuchtkugeln aus dem Papprohr in seinem Maul auf den verschneiten Rasen ploppten und ihm die Lefzen leicht versengten. Zehn Meter auf betonpflasterfestem Geläuf, auf dem mein Sohn mir Jahre später ›angefressen‹ entgegenkam. Er hatte einen Blechschaden auf der Rückfahrt vom Wehrdienst verursacht. Das Blech parkte er vor der Tür und ich hatte nur Augen, aber keine Ohren für mein Kind.
Zehn Meter waren es bis zur Verbindung mit der nicht nahen und ganz fernen Außenwelt, früher noch nicht aufgeheizt von digitalen Datenströmen. – Ich war unterwegs zu einer Wundertüte, die mit Glück täglich neu befüllt würde. ›Die Post ist da!‹ – Vier schnell dahingedachte Worte, die alles bedeuten könnten. Es wäre eine weiße Wand, würden nicht Vorgeschichten und laufende Beziehungskisten eine Fülle von Sensoren aktiviert halten. Informationen mit Erwartungen, Rätselraten in einigen Fällen auch sorgenbelastete Spekulationen waren mit auf dem Weg zum Briefkasten amerikanischen Hangar-Modells. Die Blechdose war gelb mit hochgeklappter, ebenso metallener, roter ›Fahne‹ zur Anzeige der erfolgten Befüllung. Sie hatte viel miterlebt, die Dose der zu lüftenden Geheimnisse. Innen wie außen. Der Gaul hatte sich daran geschubbert, Besucher haben das Ding umgefahren. Es beinhaltete Nachrichten fast aller Lebensbereiche, die verschiedenste Emotionen auslösten. Ein bisschen viel Pathos über die breite Schwelle zur Außenwelt? Wenn man – in diesem Fall ich, im Hauptberuf Hausfrau – mir als Abwechslung zurecht etwas von den unbenutzt verrostenden orangenen Partnerklapprädern versprochen hätte – der Briefkasten wäre Nebenschauplatz. Mein Mann war tagsüber unterwegs, das Kind je nach Alter auch und ich blieb aus Gewohnheit zu Hause. Und es wirkte ein wenig, als sei meine Präsenz selbstverständlich für meine Helden, die in Freiheit die Wildnis erkundeten.
›Vielleicht ist es Nadelya aus Sankt Petersburg. Oder ihre Enkelin, weil meine einer enteigneten Eisenbahnerdynastie abstammende, hochbetagte Freundin letztens krank war – hoffentlich kein Brief von der Kleinen. Ist es der Pastor aus Nigeria, von dem ich nicht weiß, ob es ihn gibt und er wirklich Brunnenbau-Hilfsprogramme auflegt? Danuta aus Warschau mit neuesten Parteiparolen? Es könnte auch Nurimitsu sein.‹
Meine allerbeste Brieffreundin kam aus Japan, arbeitete im Bankwesen und liebte den Fudschijama. Sie sendete keine Fotos von sich. Ich fragte sie nicht. Aber mich. ›Vielleicht schämt sie sich für irgendetwas Äußerliches und sie braucht noch Zeit, und es verhält sich anders als bei mir, die ich in jede Beziehung mit geballtem Vertrauen gehe.‹ Lieber enttäuscht werden, als die Gelegenheiten auf Schönheit zu verpassen. Nurimitsu schickte aber viele Fotos von Ihrem Mann und dem Rest der Familie, den Freunden und der vielseitigen Natur in berauschenden Landschaftsbildern. Die Nähe zu ihr war, als würden wir die vier Jahre unserer Korrespondenz genutzt haben, uns alles zu erzählen. Kultur, Gesellschaft, Hobbys und Leidenschaften. Das Verhältnis kam einer Schwesternschaft gleich, und die Verbindung war in tiefen, vertrauensvollen wie vertrauten, im Gleichklang befindlichen Schwingungen verwurzelt. Es bedurfte keiner Zeit für eine Orientierung, gar Einarbeitung in die Sicht der anderen. Aber – die Kulturen sind verschieden. Das ist ja das Spannende – möglich, dass ich ihr eine Empfindung mitteilte, die von Japanern gemeinhin als hölzern direkt wahrgenommen wird. Für mich völlig normal, weil es aufrichtig war, dass ich sie gefühlsmäßig als kleine Schwester bezeichnet hatte. Das schien irgendwie angeeckt zu sein und Nurimitsu hatte schon seit Monaten nicht mehr geschrieben. ›Hoffentlich ist ihr nichts passiert‹, dachte ich.
Nurimitsu ging es vermutlich gut. ›Vermutlich?‹ Seitdem ich IHN zu meiner LieblingsfreundIN erklärt hatte, schien ER aus unerfindlich kleinlichen Gründen eingeschnappt zu sein. ER war es auf all den langweiligen Fotos von Männern in Geschäftsrunden unter ihnen als VorgesetzteER. ER war es, der vor dem Fudschijama fotografiert wurde. Das hatte mein Sohn Jahre später in der Bildersuche online herausgefunden. Um einen beleidigten Banker brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Da gab es andere Menschen.
Meinungen
Lernt man sich besser kennen, wenn man sich weniger schreibt?
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