Wo ist der Salonwagen?
Lüneburg – Berlin – Polen
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Junior zog sein letztes Register: „Nicht mit dem Auto nach Minsk? Kein Problem. Was hältst du davon, wenn du fliegst – also von Hamburg nach Frankfurt, München oder Wien und dann nach Minsk? Ich fahre allein mit dem Zug. Wir treffen uns dort. Du kannst nachkommen.“
Auch die argumentative Drehung: ›Mutti mit der Extrawurst‹, hatte er von seinem Vater.
Das Thema war damit erledigt. Eines frühen Morgens fuhren wir in Lüneburg mit dem Zug so rechtzeitig Richtung Hamburg los, um garantiert den abendlichen Zug in Berlin nicht zu verpassen. Unsere nur für diesen Zeitraum ausgestellten Visa nebst der Zugbuchung sollten nicht gefährdet werden. Ich hatte diverse Male, gerade wenn ich ›alleinreisend‹ gebucht hatte, ein schwindendes Urlaubsgefühl. Die Vorfreude verblasste und der kleine, dumme Bruder von Heimweh machte das Gepäck schwerer. Das hörte meistens auf, sobald ich die Elbe durch den gleichnamigen Tunnel zum Flughafen oder über Brücken gequert hatte. Richtung Süden waren es die Kasseler Berge, die den Wechsel vom Blick zurück und Anspannung zu Urlaubsstimmung mit freudiger Erregung einleiteten. Ich saß da im ICE Hamburg-Berlin und schaltete nicht um. Die Elbe war lang durch. Daran lag es nicht. Ich war quasi auf einer Geschäftsreise und kam den Interessen verschiedener Parteien nach, die sich bereits einig waren. ›Was soll ich in Minsk? Klatschen? Das Lied vom Sieg der Liebe singen? Die Planwirtschaft loben? Am Ende Fünfe gerade sein lassen?‹ Ganz ehrlich: Ich bin tolerant. Leergepulte Erdnussschalen einfach auf den Tisch zu pfeffern, bringt mich in innere Raserei; unmöglich, den Blick vom Frevel abzuwenden.‹ Der Zug von Berlin nach Minsk schien ein Renner zu sein. Nicht in seiner Geschwindigkeit, sondern in seiner Beliebtheit. Es war gar nicht so leicht, noch Plätze zu ergattern. Ich war perfekt vorbereitet. Auf Verpflegung, wie sonst üblich, hatte ich auf Geheiß meines Sohnes verzichtet und auf seine weiterhin floral wuchernden Ausschmückungen und Huldigungen des uns erwartenden Bordrestaurants vertraut. Ich kann es nicht beschwören, aber es wäre möglich, dass er seine Sprache und Schlüsselworte wie ›Salonwagen‹ absichtlich gewählt hatte. In etlichen Jahren wurde von mir mehrfach erwähnt, dass ich gerne einmal im Orientexpress reisen würde.
Berliner Hauptbahnhof. Wir kamen zum angeblich richtigen Gleis und da stand auch schon ein Zug. Er schien eine Engelsgeduld zu haben – weil er sich nicht vom Acker machte. Eigentlich sollte unser Zug bereits da sein. An seiner Stelle belegte noch immer die Rostlaube nach Nischni Nowgorod das Gleis. Der Zug hatte etwas sehr Praktisches in seinem Ausdruck. Allerdings sah er spartanisch abweisend aus. Ich denke nicht, dass es gestattet gewesen wäre, wenn die Gäste auch noch ihre Koffer, Küchengeräte oder Autoreifen auf den Dächern der Waggons hätten festschnallen wollen.
Die Atmosphäre war wie auf einem Campingplatz. Etliche der Fahrgäste hatten es sich bereits bequem gemacht. Einige liefen in Badelatschen und gut eingetragenen Bademänteln auf dem Bahnsteig herum.
„Was ist denn hier los?“, entwich es mir leise in einem Moment des bewundernden Entsetzens über eine Art von Zeitreise, der ich mitten in Berlin beiwohnen durfte. „Da fehlen ja nur noch Hühner und Gänse. Unser Zug wird hoffentlich anders sein.“
„Das IST unser Zug. Wir steigen in Minsk aus. Der gondelt weiter. Mal gucken, wo unser Waggon ist“, sagte Junior.
Mein Schock war nicht in Worte zu fassen. Stattdessen reagierte ich praxisorientiert: „Ich sehe keinen Speisewagen.“
„Den suche ich, wenn wir das Abteil gefunden haben.“
„Oh, nein. Sieh mal. Nein, sieh nicht hin. Zeigt der Mann da hinten ungeniert sein Geschlechtsteil?“ Ich war nicht geschockt oder angeekelt. Alle – außer mir – hatten einen ähnlich gepolten Draht zu ihrem Selbstverständnis. Da war wenig unvorstellbar – für mich.
„Wie soll ich es sagen, wenn ich nicht hingucke? Moment, ist das ein …? Nein, Entwarnung. Das Gürtelende von seinem Bademantel hängt unglücklich. Sieh doch genau hin. Sein Zeugs trägt er in der nicht mehr brillantweißen Feinripp-Unterhose mit Seiteneingriff. Alles verpackt. Können wir jetzt einsteigen?“
Das Abteil fanden wir, richteten uns irgendwie ein und alsbald fuhr der Zug auch schon an. Dann machte sich mein Sohn auf den Weg, das Bordrestaurant zu suchen. Es dauerte nicht lange und er bestätigte meine Vorahnung. „Es gibt hier keins. Wir kommen nicht einmal von Wagen zu Wagen. Die zuständige Dame hier hat ein paar Sandwiches und ein gewaltiger Samowar steht neben der Toilette.“
Ich war urlaubsreif und wollte nach Hause. Das hatte wenig mit dem fehlenden Speisewagen zu tun. Ich tat die ganze Zeit schon etwas, gegen das sich alles in mir sträubte und entschied, in Frankfurt an der Oder auszusteigen. "Es reicht mir. Ich steige aus."
"Das kannst du nicht machen."
Auf dem Höhepunkt der Gegenwehr rief Katja erwartungsfroh an, um sich zu erkundigen, ob wir im Zug säßen. Mein Sohn bestätigte und sagte ihr, dass ich umkehren würde. Sie begann zu weinen und die Würfel waren gefallen.
›Minsk und Lukaschenko, Ihr könnt mich, aber ich komme und bringe einen Idioten zu der Frau, die ihn zu lieben scheint.‹ „Gib mir das Telefon!“ „Katja, Kleines, wir kommen.“ Nachdem das endgültig geregelt war, behielt ich den Kommandoton. „Wie lange halten wir in Frankfurt?“
Er sah auf den Fahrplan: „Zehn Minuten. Da spring ich kurz raus und kaufe ein.“ Eine Witterung hat er ja.
Gesagt, getan. Einige Kilometer später stieg er aus – und ich mit ihm. Er flitzte – soweit man es so nennen kann – im Rahmen seiner Möglichkeiten in die Bahnhofshalle. Und ich saß am Bahnsteig auf den gepackten Koffern. Ich stand nicht daneben. Ich wartete nicht im Zug. Wie ein Huhn saß sich auf der Bagage. Die in alle Richtungen große Zugbegleiterin rief mich zurück in den Wagen, doch ich rührte mich nicht. Sie versuchte, mit mir in ihrer Landessprache zu diskutieren. Ich antwortete nicht und lächelte nicht einmal. Meine Haltung hatte nur teilweise eine Eleganz, die vortrefflich zu dem edelsten französischen Gepäck unter mir passte. Dessen Hersteller bezeichnet sich gern als Handwerksbetrieb, obwohl er Teil eines Luxusimperiums ist. Andererseits war ich das besagte Huhn zwischen Schockstarre und Angriffsbereitschaft. ›Wenn er es nicht rechtzeitig schafft, bleibe ich am Bahnsteig sitzen und fahre garantiert nicht allein zu der Frau, die selbst er nicht richtig kennen kann. Seit der Pubertät war er selten pünktlich. Warum sollte das jetzt anders sein?‹ Den Zug fand ich sowieso furchtbar und den Anlass der Reise höchst fragwürdig. Die Zugbegleiterinnen der einzelnen Wagen machten sich nach einem abschließenden Blick auf das Prunkstück frühsteinzeitlichen Fahrzeugbaus bereit, wieder einzusteigen.
Da kam mein Goldjunge angelaufen. Beide Hände voll mit diversen kleinen, dünnwandigen Plastiktüten, als hätte er einen Dönerladen geplündert. Mit dem Gesichtsausdruck eines Siegers grinste das Honigkuchenpferd, bat mich, aufzustehen, gab mir die Tüten und schmiss die Koffer wieder in den Zug. Die Falle war endgültig zugeschnappt. Wir hatten einen extrem warmen Tag im Mai erwischt. Draußen. Im Zug war es unerträglich heißer. Mein Sohn hat an alles gedacht. Sandwiches, Cola, Limonade und Wasser in Dosen, und sogar Wein hatte er dabei. Becher und Süßigkeiten rundeten das Programm ab. Die gleichen Emotionen wie beim Salonwagen im Orientexpress waren es sicher nicht, die bei mir hervorgerufen wurden. Wir würden weder verhungern noch verdursten, auch wenn der Zug den Geist aufgäbe. Die Klimatisierung konnte nicht ausfallen. Es gab keine. Die Hitze sprach dafür, zumindest die gebutterten Nahrungsmittel zügig zu essen. Cola-Dosen mit vierunddreißig Grad Celsius kannte ich aus dem Jugoslawienurlaub. Mein Sohn – Ingenieur seines Zeichens – machte eine seiner Auffassung nach ›großartige Entdeckung‹ in dem Abteil, in dem wir saßen, aßen und in dem wir schlafen würden.
„Sieh mal, hier ist ein Kühlschrank unter dem Sitz. Die Sitzfläche ist der Deckel. Unsere Probleme sind gelöst.“
Gelöst? Unsere Probleme bekamen einen neuen Teilnehmer. Zumindest die Annahme, dass es sich um einen Deckel, eine Abdeckung handelte, entsprach der Realität. Was aufgedeckt wurde, stand auf einem anderen Blatt. – Ein generelles Missverständnis der folgenden Wochen.
Meinungen
Was war die schönsten Zugstrecke, die Du je gefahren bist?
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