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Mit dem Radlader ins Hotel

von Marc Krautwedel

Kapitel 65: Die Perle von San Marco

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Die Perle von San Marco

Die Perle von San Marco

Venedig

Es war der Urlaub mit meinem Mann rund um unseren Hochzeitstag in Venedig. Wir gastierten in einem noblen Hotel und saßen jeden Tag auf der Piazza San Marco im Caffè Florian. Am Hochzeitstag selbstverständlich auch. Wir blickten auf die Piazza und genossen bei einem Wein die klassische Musik von dem Streichquartett, die Wärme und das Ambiente im späten September. Mein Mann las Zeitung. Es war ruhig – nicht im akustischen Sinne, denn Menschen unterhielten sich und die Musik spielte, aber das Leben auf der Piazza war ohne Eile. Es tröpfelte. Ein ziemlich ramponiert gekleideter Mann – selbst ich würde ihn, ohne ihn zu kennen, als Homeless, Clochard, vielleicht Bettler oder despektierlich umgangssprachlich als Penner bezeichnen – ging fast am Caffè Florian vorbei, aber nicht an uns vorüber. Schon bevor er auf unserer Höhe war, sah er zu uns und bewegte sich schnurstracks auf uns zu, um Platz zu nehmen. Er blieb vor unserem Tisch stehen und lächelte mich an.

„Darf ich mich setzen“, fragte er mich auf Deutsch, ohne dass wir uns kannten oder er meine Muttersprache aus einem gesagten Wort hätte feststellen können. Mein Ehemann senkte die Zeitung und der Oberkellner kam angesaust und wollte den Fragenden vertreiben.

„Lass nur. Es ist alles in Ordnung“, sagte ich zum Oberkellner, dem Freund, den ich aus meiner Alleinreise gewonnen hatte, der sich damals einen Spaß daraus gemacht hatte, „Avanti Anna, avanti!“ über den Markusplatz zu rufen.

„Gern. Bitte setzen Sie sich“, sagte ich zu dem Fremden. Dieser setzte sich. „Dürfen wir Sie auf ein Glas Wein einladen?“

„Ja gerne. Danke“, antwortete er ohne ein Anzeichen der Überraschung. Der Kellner brachte den Wein, wir tranken und begannen uns zu unterhalten, obwohl er mehr von sich erzählte – weil er es wollte oder musste. Mein Silberhochzeitsgatte war längst wieder hinter seiner Zeitung verschwunden. Das Leben des Mannes, wenn es sich denn so verlief wie geschildert, war von Dramen und Schicksalsschlägen schlimmster Ausmaße gezeichnet. Ich bin es gewohnt, mehr Leid zu hören als selbst gehört zu werden und hielt seinen Redefluss am Laufen. Mein Mann sah ein einziges Mal mit gesenkter Zeitung auf und sagte: „Oh mein Gott, wann haut der endlich ab?“

Nach einer Dreiviertelstunde des Nachempfindens der Lebensgeschichte eines Fremden – wir duzten uns nach dem zweiten Satz – hielt ich das Gespräch für auskömmlich vertieft. „Du, ich würde jetzt gern wieder mit meinem Mann allein sein.“

Der Fremde, dessen Leid ich nun kannte, lächelte, senkte die Augen und erhob sich. Er bedankte sich für den Wein, wendete sich meinem Mann zu und sagte: „Ihre Frau ist eine Perle. Passen Sie gut auf sie auf.“ Er lächelte mich an und ging dann so unauffällig, wie er gekommen war.

Mein Mann musterte mich von der Seite. „Was war das denn für eine Vorstellung?“ Er griff zu einer Zigarette, zündete sie an, inhalierte und blies den Rauch laut atmend aus, sah kurz weg und mich dann wieder an. Mein Göttergatte hatte so gar nichts Himmlisches in seinem Blick. Seine Augen waren vordergründig leer. Etwas Finsteres, ungeahnt Kaltes spielte sich im Hintergrund ab.

„Ich weiß nicht, wovon du redest. Das war ein sehr freundlicher Herr, der zufälligerweise möglicherweise Stadtstreicher ist. Bei seiner Geschichte ist es wenig verwunderlich, dass er es kaum ertragen kann.“

„Ich spreche nicht von dem Penner. Ich spreche von dir. Willst du die ganze Stadt an deinen Tisch einladen?“ Für meinen Mann war das völlig unverständlich, aber er war weder offenen Herzens sauer noch sonderlich an meinen Beweggründen interessiert. Es war eher so, als würde er eine Strichliste führen über all die kleinen Begebenheiten, die sich bei mir ereigneten, die er für sonderlich hielt. Das Maß schien voll zu sein. Er grinste mich kalt und diabolisch an, lehnte sich zurück, zog die buschigen Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. Dann stellte er den Kopf leicht schief und beobachtete das gemächliche Treiben auf der Piazza.

Stunden später, in der Nacht zwischen ein und zwei Uhr, schlenderten wir noch durch Venedig. Es war nur noch sehr wenig Menschen auf den Straßen, sodass man die Schritte einzeln auf dem harten Pflaster hören konnte. Wir waren fast am Hotel angelangt, da reflektierte irgendetwas auf der Straße das Licht. Ein kleines funkelndes Objekt lag seitlich, sogar etwas abseits in einer Fuge zwischen zwei Bodenplatten auf dem Campo San Moisè. Ich beugte mich zu dem kleinen Objekt herunter und erkannte, dass es eine Perle war. Ich hob sie auf und zeigte sie meinem Mann. „Sieh mal! – Eine Perle.“

„Das ist nicht euer Ernst!“, sagte mein Mann und kommentierte im Weiteren weder das Objekt in meiner Hand noch den Fremden, der an unseren Tisch gekommen war.

Ich sah mir die Perle noch einige Sekunden an und ging mit ihr in der geschlossenen Hand weiter ins Hotel.

Ich habe sie noch immer. Sie erinnert mich nicht nur an einen schönen, ansonsten ereignisarmen, aber sonderbaren Abend. Es war eine angenehme Begebenheit, die mich etwas stutzig machte. – Nicht mehr. Die Perle trage ich oft bei mir oder habe sie zu Hause auf der Fensterbank. Sie ist ein passiver – ja, vielleicht dann doch ein Glücksbringer. Die Erinnerungen – die größeren wie die kleineren und die Wegstrecke machen mich froh. Die Perle selbst? Ein Symbol, unstrittig. Aber ein Zeichen? Sollen andere sich drum kümmern. Der Alltag zeigt mir genug Unerwartetes. Trotzdem—nett war’s, und hübsch ist sie. Ich liebe Überraschungen.

Danke fürs Lesen!

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