Mittel gegen Flugangst
Korfu
Wir hatten noch weitere gemeinsame Flüge, bei denen mein Sohn aber nicht mehr warm mit dem Verkehrsmittel wurde. Beim Endanflug auf Neapel flogen wir durch die schwarzen Rauchschwaden von brennenden Autoreifen auf einem Müllberg. Die anschließende Fahrt in dem rundum verglasten Schneewittchensarg, dem Tragflächenboot zur Insel Ischia, sagte ihm ebenso wenig zu. Er ist später nur noch viermal geflogen, einmal davon auf Geschäftsreise. Einen einzigen Flug hatte er genossen. Es war der Rückflug aus dem Familienurlaub von Korfu nach Hamburg, und es lag nicht an der Route.
Der Flughafen der Insel im Ionischen Meer ist selbst für sonnige Gemüter wie mich minimal gewöhnungsbedürftig. Die Start- und Landebahn endet im Wasser, und auf der Gegenseite wird es – hübsch anzusehen, schlechter zum Durchstarten – bergig. Sicher gibt es andere Gewichtsklassen, was Risiken oder die Berge an sich anbelangt. Einem Angsthasen wie Junior schießen kleinste Abweichungen von einer idealen windstillen Umgebung – am besten auf einem Salzsee – ansatzlos mit einem Vorschlaghammer ins Nervenkostüm. Genauso registriert wurde, dass die funktionale Ausstattung leicht überschaubar war und einen improvisierten Eindruck erweckte. Junior war hellwach. Eine nicht vertrauensfördernde Besonderheit auf Korfu war zumindest damals, dass die Hauptstraße für startende Flugzeuge gesperrt wurde. Der rechte Flügel ignorierte den flatterigen Maschendrahtzaun als Grenzzeichen. Er ragte mit dem tief hängenden Motörchen der Boeing 737 weit über die Straße. Wir schienen den Platz zu brauchen, um die ganze Länge der Startbahn ausschöpfen zu können. Bäuchlings ins Wasser zu fahren war vermutlich nicht geplant. Im Allerweltsflugzeug, dem Urlaubs- und Cityhüpfer für Kurz- und Mittelstrecke schlechthin, erwarteten wir nicht viel vom Start. Der Pilot begrüßte uns. „Liebe Fluggäste, hier spricht Ihr Kapitän Richthofen. Ich begrüße Sie an Bord unseres Fluges von Korfu nach Hamburg.“
Da war es um meinen Sohn geschehen. „Das kann lustig werden“, sagte der Angsthase erwartungsfroh. Junior, der behauptete, wenn er selber flöge, hätte er keine Angst, witterte beim Namen des Kapitäns Professionalität und Abenteuer. Es ging schon gut los. Die Triebwerke liefen hoch – und höher. Das Flugzeug bewegte sich nicht. Richthofen stand auf der Bremse, während die rauschenden Motoren an bereits schwingenden Flügeln ihr Bestes gaben. Der Blick aus dem Fenster signalisierte mir, dass auch der Verkehrspolizist und die Menschen, die aus ihren Fahrzeugen auf der Straße neben uns ausgestiegen waren, am Startversuch Interesse zeigten. Dann ging der Pilot von der Bremse und der Vogel schoss mit irrer Gewalt nach vorne. Dennoch spritzte etwas Wasser auf, als das Flugzeug abhob. Wir saßen hinten. Der Flug verlief normal. Zunächst wenigstens. Die Strecke über die Adria war unaufgeregt. Ich konnte Venedig gut erkennen. Es wurden bei mir sowohl Erinnerungen wach, als auch erneut der Beschluss gefasst wurde, noch einmal dorthin zu reisen.
Dann kam die Durchsage vom Kapitän mit der Frage, ob sich wegen eines Notfalls an Bord einen Arzt unter den Passagieren befand. Dem war so und fünf Minuten später kam eine erneute Meldung.
„Liebe Fluggäste hier spricht ihr Kapitän Richthofen. Wir haben einen medizinischen Notfall an Bord und werden in München zwischenlanden. Wir fliegen direkt. Der gesamte Luftraum über den Alpen ist für uns freigehalten.“
Die letzte Bemerkung hätte er sich eigentlich sparen können, doch erschien es, als sei das für ihn die Chance und Legitimation gewesen, aus dem fliegenden Bus einen Kampfjet zu machen. Von Reisegeschwindigkeit keine Spur. Er gab Vollgas und flog teilweise so tief, dass die Berge der Alpen zum Greifen nahe waren. Nicht unter, sondern neben mir. Es grenzte an Konturenflug. Mein ängstlicher Sohn war begeistert. „Der kann fliegen“, sagte er anerkennend über den Piloten. Junior hat eine Eigenart, unangenehme Sachverhalte seiner Umgebung übertreibungsfreudig auszuschmücken: „Wenn jetzt was daneben geht, wird das kein einfaches Runterplumpsen, dann knallt es richtig.“ Bei meinem Filius war es nicht das grundsätzliche Risiko des Absturzes, sondern im Fallen das Gefühl verarbeiten zu müssen, den falschen Flug genommen zu haben.
Wir landeten in München. Das Flugzeug preschte an die Stelle, wo schon Rettungswagen standen. „Guckt mal. Toll, wie das funktioniert. Alles ist organisiert.“ Mit diesem Beitrag über ein intaktes Rettungswesen erntete ich weder Beifall noch Widerspruch. Mein Mann flog nicht gern, aber er tat es. Für das Beiprogramm interessierte er sich nicht.
Junior war im Adrenalinrausch. „Was kommt als Nächstes? Vogelschlag?“
Der Patient wurde weiter versorgt und abtransportiert. Die Tür ging zu. „Wir haben Starterlaubnis.“ Der Pilot fuhr Richtung Startbahn. Auf dem Weg dahin beschleunigte er in der Kurve und ohne vorher anzuhalten, hob er ab. Etwa auf Höhe Kassel kam eine erneute Durchsage: „Sehr geehrte Passagiere, hier spricht Ihr Kapitän. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir keinen Zeitverlust haben und plangemäß in Hamburg landen werden.“
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