Pilzgerüchte
Erding und Regensburg
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Mitten in Erding, an der Hauptstraße im Zentrum, beste Lage, bestes Haus mit bester bayerischer Küche. Ich saß vor dem luxuriösen Dorfgasthof und die oberbayerische Speisekarte hätte ich rauf und runter essen können – und schickte mich an, es zu tun. Statt mich zu ärgern, zu grübeln oder zu hinterfragen, habe ich in der Abendsonne Unmengen von Essenwünschen geäußert. Das Timing war nicht unhöflich von mir, denn auf meine beiden Kleinen brauchte ich nicht zu warten. Sie kamen sowieso nicht pünktlich. Wenn sie sich nicht an Verabredungen hielten, brauchte ich es ebenso wenig. Bayerischer Wurstsalat, Knödel mit Pfifferlingen und als meine Familie kam, bestellte ich mir gerade eine halbe Ente. Mit dem Kellner war ich schon per ›du‹. Ich war entspannt. Die Mass honiggelbes, bayrisches Bier vor mir löschte alle Inbrunst.
„Joa Servus, dun langst joa richtig hin. Dass du des ois ibahaupt schaffen duasd. Ma siht es dia ibahaupt ned an.“
„Lass` die Karte bitte hier, ich hab noch gar nicht richtig angefangen.“
Das war kein Frustessen, sondern ein Abschiedsessen. Ich verabschiedete mich von dem Gedanken, dass es gut ausgehen würde. Die beiden Verlobten kamen runter, bestellten und Junior humpelte gleich weiter. Er suchte eine Apotheke. Schmerzmittel, Klebeband, Fleckenreiniger für die blutigen Schuhe, …; ich habe keine Ahnung, was er holte. Katja überlegte, auch die Pfifferlingspfanne zu nehmen.
„Die Pfifferlinge sind gut. Die hatte ich vorhin.“ Ich konnte ihr nur beipflichten, während mir bei der halben Ente vor meiner Nase der flüchtige Gedanke kam, dass ich möglicherweise doch ein winziges Stückchen übers Ziel hinausgeschossen war.
„Ja, Anna, ich werde versuchen. Meine Muutter hat Pilze gesammelt und getrocknet. Sie bringt mit als Geschenk zur Hoochzeit; grooßes Glas.“
›Erdboden tu‘ dich auf. Auch das noch. Warum drückt ihr mir euren Mist in meine Mülltonne? Denn dahin gehören die ach so gut gemeinten Eindringlinge.‹ Es mag eine Überempfindlichkeit sein und Gesten der Verbundenheit sind wunderbar. Das Einwirken auf meine Haushaltsführung ist für mich, als würde bei einem Automechatroniker der Nachbar vorbeikommen und das ganze Werkzeug in der Halle neu sortieren, umstellen und austauschen. Das alles nur, um seinen Fußabdruck zu hinterlassen. Meine eigene Schwiegermutter beschenkte uns neben Ratschlägen und Rezepten ständig mit selbst gemachter, grober Leberwurst. Sie hatte weder Hausschlachtungen noch einen Hof. Trotzdem bekam ich immer diese Einwegleser mit einer wieder vitalen Masse darin. Das Tier, das garantiert nicht vor so kurzer Zeit seinen Tod fand, entfachte ungekühlt millionenfach neues Leben. Bei meiner Schwiegermutter handelte es sich auch um die Frau, die sich eine Pilzvergiftung zuzog nach dem Selbstsammeln. Es war dieselbe Schwiegermutter, die es überraschte, was in dem Gänsekörper steckte, nachdem sie ihn aus dem Backofen geholt hatte. Sämtliche in Plastiktüten abgepackten Innereien waren noch drin. Zumindest rührte sie angeblich nicht so lieblos um, wie ich. ›Und jetzt kriege ich, die ich mir keiner Schuld bewusst bin, auch noch Geschenke von der zukünftigen Schwiegermutter meines Sohnes. – Pilze aus Weißrussland. Besser könnte es kaum sein. Da geht mir das durch Tschernobyl verstrahlte Nachbarherz auf. Nein, sie soll das Glas zu Hause lassen.‹ Ich sammelte mich im eigenen Glas, allerdings ohne den Deckel zu schließen. „Danke deiner Mutter vielmals. Aber nein danke. Sie soll bloß keine Pilze mitbringen.“
„Doch Aaanna, ich denke, du musst es nehmen, weil es Geschenk ist, mit Libbe.“
„Ich will die Pilze nicht, und ich muss gar nichts. Und von deiner Mutter nehme schon den ganzen Tag keine Geschenke an. Ich will mit der Frau absolut nichts zu tun haben. Heiratet, aber lasst mich mit der Verwandtschaft in Ruhe.“
›Oha‹, ich dachte, die Kleine sei kalt wie eine Hundeschnauze. Falsch gedacht. Wenn es um ihre eigene Mutter ging, kochte jetzt tatsächlich ihr das Blut. Sie schwieg und ihr Blick war eisern. Mein Sohn kam zurück aus der Apotheke. Er setzte sich und erlebte, wie Katja mir den Verlobungsring – meinen – zurückgab. Es war der Ring, den ich ihr vor der Reise schenkte, um sie in der Familie willkommen zu heißen und ihr mein Vertrauen auszusprechen.
„Anna, ich denke, ich brauche nichts von dir. Ich gebe zurück. Du bist sehr unfreundlich zu meiner Muutter. Du bist wie meine Großmutter.“
›Hoppla. Da liegt der Hund mit dem Omaproblem begraben. Das ›U‹ fällt bei der ›Großmutter‹ auch deutlich kürzer aus‹, dachte ich und reagierte schnell, bevor ich mir mit Deutungsversuchen noch mehr von etwas aufhalste, womit ich nichts zu tun haben wollte.
„Danke, ich hätte ihn dir nicht geben sollen.“
Junior betrachtete das Schauspiel. Er saß neben seiner zukünftigen Frau. Er hatte sich auf der Biergartenbank etwas seitlich gesetzt. Wie beim Tennis wollte er die Flugbahn des Balls im Moment des jeweiligen Schlages erahnen.
„Seid ihr so weit durch? Was heißt das jetzt? Ist die Hochzeit abgeblasen, bevor wir einen Termin haben?“, fragte mein Sohn und er war noch frei von Schmerzmitteln und nüchtern. Psychopharmaka werden sie ihm in der Apotheke nicht gegen die kaputten Latschen, die ich irgendwann zur Welt gebracht hatte, gegeben haben. Damals waren es Füße.
„Schaatz, nein. Du bist mein Maaan. Aber ich möchte nicht, wenn deine Muutter denkt, dass ich etwas von ihr brauche.“
Mein Sohn sah in die Runde und war – hellauf begeistert. „Das ist klasse. Die sind Fronten geklärt. Wir sind alles verschiedene, selbstbestimmte Menschen. Jeder macht sein Ding und wir arrangieren uns, wo und wenn es nötig ist. Das Letzte, was ich möchte, ist, dass es Streit gibt. Super, das hätten wir. Jetzt können wir komplett von vorne anfangen.“
Am nächsten Tag fuhren wir morgens zum Flughafen. Sie flog weg und mein Sohn und ich schwiegen uns an.
Es ging nicht ganz ohne Kommunikation, denn statt in einem Rutsch von München bis Hamburg durchzujagen, blieben wir in Regensburg hängen. Massivste Bauarbeiten auf der Autobahn und in einem ausgedehnten Bereich auf Bundes- und Landstraßen ließen uns im Stau auf Feldwegen etliche Stunden stehen. Wir waren froh, spät noch zwei Zimmer in der Nähe vom Bahnhof zu bekommen. Ich kannte Regensburg nicht, aber erstens wollte ich den Humpelheini schonen. Er konnte jetzt, da seine Liebste weg war, auch wieder das ganze Paket an zelebrierter Leidensfähigkeit zeigen. – Obwohl, es stimmt nicht. Er war verändert. – Schweigend und verstockt wie damals auf Ibiza – als Neunjähriger – als ihn Lumumba beleidigt hatte. Zweitens war ich nicht in der Stimmung für Entdeckungen. Wir saßen draußen vor dem Portal des Doms, in einem Restaurant, hatten beide null Appetit, aber tranken etwas. Bis auf die Besonderheit, dass nach meiner Wahrnehmung Autos in der Kneipe hin- und her fuhren und Menschen im Lokal ein- und ausstiegen, als ich von der Toilette kam, gab es keine weiteren Vorkommnisse in unserer Umgebung. An unserem Tisch tat sich was.
„Vui zvui Gfui“, sagte mein Sohn, ins Leere blickend.
„Was sagst du?“
„Vui zvui Gfui. Viel zu viel Gefühl. Das hat mir vor Jahren hier in Regensburg eine Kellnerin in einer Bar an der Donau gesagt.“
„Wieso hat sie das von dir gesagt?“
„Sie sprach von sich und meinte, dass es nur Probleme gäbe, wenn man zu viel fühlt. Die Emotionen kochen hoch, man ist begeistert und verzweifelt. Und der ganze Wust, das Durcheinander im Kopf hat wenig bis nichts mit der Realität zu tun.“
„Bist du verwirrt?“
„Noch einmal Mutter, sie sprach von sich und ihren Stürzen in der Gefühlsebene.“
„Wenn du mich meinst, ist das blanker Unsinn. Deine Füße sind kaputt und Katja trieb dich durch die Gegend.“
„Können wir ein für alle Male das Thema mit meinen Quanten beerdigen?“
„Das macht keine Frau mit dem Mann, den sie liebt.“
Also gut. Erstens sind das meine Füße und ich entscheide darüber.
Aber ….
„Ich habe entschieden, und es ist überhaupt kein Problem.“
„Du kannst nicht laufen.“
„Weil ich zweitens zu lange zu viel gegessen und mich zu wenig bewegt habe. Das wird sich ändern. Und klar macht das nicht den gesündesten Eindruck. Das geht weg. Katja sieht es genauso. Und sie wird sicher nicht fortgehen.“
Dem gab es nichts hinzuzufügen. Ich ließ es unkommentiert und wir schwiegen wieder.
Auch die Rückfahrt nach Lüneburg verlief nahezu wortlos. Der erste Teil der Strecke war reibungslos in allen Belangen. ›Er und Katja haben überhaupt keine Ahnung von Streitkultur.‹ Dabei ist doch die menschliche Auseinandersetzung über Verschiedenartigkeiten das Salz in der Suppe. Das streitbare Verlangen nach gegenseitigem Verständnis ist Grundnahrungsmittel der Seele. ›Bei denen dringt nichts an die Oberfläche und wenn doch, ist es ein Kündigungsschreiben oder besser noch eine einvernehmliche Vertragsauflösung‹, dachte ich und fand die Haltung der beiden in neutralem, sachlich durchkomponiertem Einklang nicht nur langweilig, sondern auch unaufrichtig. Gefühle müssen raus. Zumindest gegenüber denen, die man liebt.
Israel ist so ein Ort. Ein Schmelztiegel, in welchem eben keine homogene Legierung gekocht wird. Da fegen die Emotionen selbst unter Gleichgesinnten wie Sonnenwinde am Firmament des noch Erträglichen und zieren dieses mit Vielseitigkeit.
Meinungen
Mal ehrlich. Hätte ich schweigen sollen und die Pilze im Glas mit Dankbarkeit erwarten sollen? Was meinst Du?
Sonstige Bemerkungen?