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Mit dem Radlader ins Hotel

von Marc Krautwedel

Kapitel 42: Römische Geschichte

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Römische Geschichte

Römische Geschichte

Rom

Die Ewige Stadt. „Carlo, wie viele Viagra soll ich dir mitbringen?“ Nichts hält ewig. Der Medizinmann in der Apotheke in der ehrwürdig wie luxuriös vermieteten Via Condotti wartete geduldig auf die Entscheidung des Befragten. Carlo war nicht zugegen. Die chic gekleidete italienische Frau Anfang vierzig telefonierte mit ihm, während sie mit der freien Hand in ihrer dunkelblauen Umhängetasche wühlte. Einer der Tragriemen war noch auf der Schulter, der andere hing schlaff nach vorne runter. Er hielt die Tasche aufgeklafft und gab den Innenraum der Tasche frei für ihre Hand und die Blicke der drei Kunden im Laden. Ich sah weg, diesmal nicht aus Höflichkeit. Frauenhandtaschen sind ein Mysterium – für Männer. Ich blickte durchs Fenster in die von Fußgängern wimmelnde Straße und stellte mir vor, wie Carlo zu Hause versuchte abzuschätzen, wie seine Ambitionen und seine Fitness in einem überschaubaren Zeitraum in Einklang zu bekommen wären. Die Antwort kam, und die Dame gab die Mengenangabe unkommentiert an den Apotheker weiter. Sie zahlte nach Erhalt der Tabletten, setzte die Sonnenbrille zurück vom wuscheligen, brünetten Haar vor die Augen, verabschiedete sich und tauchte in die Menge auf der Straße ein. Carlo würde zur gegebenen Zeit geholfen. Mein Anliegen war jedenfalls akut. Ich brauchte Pflaster. Das Unterschätzen der Wegstrecken zwischen den Objekten meiner Begierde ist ein Klassiker, wenn ich auf Reisen bin. Und immer trifft es mich unvorbereitet. Ich kapiere es einfach nicht.

Rom ist schon so lange da und ich hatte es noch nicht besucht, obwohl es allein wegen meiner Liebe für Italien ganz oben auf dem Zettel hätte stehen müssen. Bei ähnlichen Reisezielen, die von Kultur und Geschichte nur so triefen, unterscheide ich zwischen Bildungsreise und Städtereise. In einer Gruppe durch Rom zu ziehen und Highlights abzugrasen, erschien mir bei der Größe der Stadt und der Anzahl verschiedenster Ziele unpraktisch. Das ist etwas unlogisch, denn Athen war bei mir Programmpunkt auf einer Gruppenreise, und wir waren zwei Tage da. Bezogen auf den Smog langte das auch. Alles zusammen genommen reise ich sicherlich unterdurchschnittlich wenig. Eine zielorientierte Planung ist da Gold wert. Bei Rom lag die Sache anders. Warum sollte ich mich belügen? Es war eine Spontanentscheidung. Ich wollte nicht zwingend nach Rom. Die Flucht von Zuhause, präziser formuliert, vor meinem damit pausierten Eheglück, war mein Antrieb. Der Mann, den ich aus Liebe und der ihr entsprungenen – eigentlich ungewollten – Schwangerschaft geheiratet hatte, ging mir mächtig auf den Keks. Zumindest mit ihm hatte ich nicht vor, es zu erörtern. Deswegen heißt es unsagbar. Bei mir wurzelt der Begriff entweder auf dem unaussprechlichen Schrecken oder dem unfassbaren Glück. Meinem Grad an Sozialisierung gemäß, haute ich ab, anstelle ihm die Meinung zu geigen.

Unsere beiden Geburtstage liegen zehn volle Tage auseinander. Im Sinne einer vereinfachten Logistik für Verwandtschaft und Freunde feierten wir die Wiegenfeste gemeinsam. Komisch, dass es nie ein Sonnabend oder Sonntag dazwischen war, der als Festtermin herhalten durfte. Gefeiert wurde immer am tatsächlichen Geburtstag meines Mannes, weil er – so die Logik, die ich nie verstand – ja vor mir dran war. Auch in besagtem Jahr. Sein nicht mehr runder Festtag wurde ausgiebig zelebriert. Ich hingegen ›feierte‹ einen solchen Eintritt in ein neues Jahrzehnt. Er hatte sich etwas Besonderes ausgedacht. Wir fuhren auf die Nordseeinsel Föhr. Ich liebe das Eiland seit der Kindheit. Damals war es eine Entscheidung meiner Eltern. Später nutzte ich jede Überfahrt mit der Fähre und die Beschaulichkeit, um in Erinnerungen zu schwelgen. Der Seegang stört mich nur dort nicht. Da ist Wetter noch Wetter. Bei Sturm im wahrsten Sinne ergreifend und bei strahlendem Himmel ein Lichtblick. Insofern hatte mein Mann es genau richtig getroffen. Die Verwandtschaft und die Freunde hatte ich ja bereits auf seinen Geburtstag gesehen. Zumindest die gemeinsamen. Das Wetter war fantastisch. Sonnenschein und warm. Alles war friedlich und ruhig. Zu ruhig, denn die gesamte Zeit, so auch an meinem Tag saß der einzige Gast in einem Strandkorb und las. Der Typ, der bei Freunden und Publikum den Alleinunterhalter mimte, war tiefentspannt, als hätte ihm jemand den Stecker gezogen. Er machte keine Anstalten, in irgendeiner Form auf mich einzugehen. Morgens wurde ich beschenkt – zwei Winterpullover – und am Abend gingen wir die hundertfünfzig Meter zum Italiener.

Dabei hat Föhr so viel zu bieten. Wenn ich einen stürmischen Herbst allein auf einer Hallig verbrächte, hätte ich Genuss pur. Alleinsein, Sturm, ein heißer Tee, fünf Schafe und Bücher. Ein Traum. Für Einsamkeit braucht es bei mir mindestens zwei Personen, die sich sehen, aber nicht wirklich begegnen. Vielleicht ist es von mir zu viel erwartet, auf Überraschungen, wie zum Beispiel eine Wattwanderung oder sogar eine Kutschfahrt nach Amrum, bei Ebbe als feinsinniges Geschenk zu bekommen. Ich liebe meinen Mann, aber er war praktisch orientiert. Für Beziehungsfragen und Selbstreflexionen in Einklang oder Widerspruch fehlte ihm das Verständnis. „Wozu raten? Du weißt am besten, was du möchtest“. Es gab keine Irrtümer oder Zweifel in seiner Hemisphäre. Mir reichte es. Am Sonntagabend waren wir wieder zu Hause. Und am Dienstag saß ich im Flieger nach Rom. Allein. Mit den anderen Fluggästen und der Crew war ich schließlich weder befreundet, verwandt noch verheiratet. Mein Mann konnte mit meinem Abflug leben. Ich sowieso mit jeder Flugmeile, die ich hinter mich brachte, etwas besser.

Das Hotel lag etwa siebenhundert Meter südöstlich vom Kolosseum. Es war zauberhaft und inhabergeführt. Im Schwung des Nachhalls meiner Entscheidungsfreude oder entladen von der häuslichen Ruhe, fragte ich direkt beim Einchecken den Herren an der Rezeption, wo ich am Abend noch etwas Kultur genießen könnte – zum Beispiel ein Konzert in der Nähe. Das wäre ein komplettes Kontrastprogramm zu den Tagen zuvor gewesen. Und tatsächlich, Mitte Juli in Rom hatte er einen fantastischen Tipp für mich und reservierte sofort telefonisch. Das war überaus freundlich, denn es handelte sich nicht um ein Luxushotel. Es war ein kleines, aber hohes, innerstädtisches Haus an einem ein Platz mit einer – wie könnte es in Rom anders sein? – Kirche.

Langsam kam ich runter im Gemüt und ging einige Stunden später los, rechts am Kolosseum vorbei Richtung Tiber zum Marcellustheater. Tatsächlich war der Weg länger, weil ich nie direkt marschiere. Ungewollt. Zu Fuß unterwegs gewinnt man Eindrücke und lernt Menschen kennen. Meines Orientierungssinns gewahr, gehe ich, wenn es einen Termin gibt, deutlich frühzeitig los. Entweder, um mich notfalls durchzufragen, oder – sollten wieder alle Stricke reißen – um ein Taxi zu nehmen. Das Theater haute mich um. Am sommerlichen Abend unter freiem Himmel wirkte das fast Halbrund des über zweitausend Jahre alten Bauwerks anders als eine historische Randerscheinung, eine Kulisse. Es steht genau neben dem Platz, auf dem musiziert wurde. Das gesamte kulturelle Ensemble aus historischen Zeugnissen und aktuellen Veranstaltungen kreiert ein zeitloses, atmendes Ambiente. Gesellschaften und Gesellschaftsformen scheitern, Ehen können die Brüche gehen, aber die Kultur ist wie das Leben. – Sie versucht es immer wieder – und wenn es temporär nebenan ist. Am Einlass nannte ich meinen Namen.

Der Platzanweiser begrüßte mich freundlichst. „Guten Abend, Signora“, und sah auf eine Liste. „Ich führe Sie zu Ihren Plätzen.“

›Zu meinen Plätzen?‹, wiederholte ich wortlos im Geiste. Egal, wie mies mein Italienisch auch sein mag, den Plural erkenne ich, wenn ich ihn höre. Es sollte sich bewahrheiten. Genau genommen waren es zwei Plätze. In der ersten Reihe waren sie auf Signore und Signora Mayer reserviert. ›Das ist aber nett von ihm‹, dachte ich – nicht. Natürlich hatte Herr Mayer nicht die Karten zurücklegen lassen und natürlich war es keine Überraschung und natürlich würde er nicht dort erscheinen. Irgendwo beim Plaudern zwischen dem Hotelier und dem Veranstalter – am Telefon – musste es zu dem Missverständnis gekommen sein, dass ich selbstverständlich in Begleitung meines Gatten käme. Das Konzert war einer jener Bausteine des Gesamtambiente mit der Geschichte des Theaters und meiner eigenen nur wenige Tage zurückliegenden, wo Dinge aufeinanderprallten und in Wohlergehen aufgingen. In mir war eine von musizierter Harmonie getragene Ruhe. Ich blickte zu den drei vereinsamten Säulen des Apollontempels, die sich erhaben gegen den samtblauen Himmel abzeichneten. Die Zuschauerreihen waren gefüllt und umarmt von der Musik. Nach der Veranstaltung kehrte ich in eine Bar direkt daneben ein und kam gleich mit einem Paar ins Gespräch. Sie hatten an dem Tag in der Nachbarschaft zu tun gehabt. Es war sofort Sympathie zwischen uns. Sie sagten, dass sie auch im Konzert gewesen waren und es sich als Römer nicht entgehen ließen. Wir sprachen vor allem über ihre Stadt. Es war bereits spät, und wir brachen gemeinsam auf. – Ich, um mir ein Taxi zu rufen. Keine Chance. Sie boten mir an, mich mit dem Auto zum Hotel zu bringen. Das Problem war, dass ich weder dessen Namen noch seine Adresse kannte. Das Einzige, was ich mir gemerkt hatte, war die wohlklingende Aussprache der Kirche fast nebenan. ›Santa Maria Maggiore‹ vergisst man nicht so leicht. Als eine der Hauptkirchen Roms war sie mir spätestens seit der Reisevorbereitung mit dem roten Büchlein, das ich mir noch am Montag daheim besorgt hatte, um es im Flieger durchzupflügen, geläufig. Der Mann lächelte und fuhr los. An der Kirche angekommen, wollten wir uns eigentlich nicht mehr aus den Sinnen und Augen verlieren und beschlossen, die Adressen auszutauschen. Dann verstummten die neuen Freunde plötzlich, als sie auf die notierte Anschrift sahen.

Der Mann drehte nur ein wenig den Kopf zu mir: „Hätten wir gewusst, dass Sie eine Deutsche sind, hätten wir sie niemals mitgenommen. Ein Teil meiner Familie ist in Auschwitz ermordet worden.“ Die Tür schloss sich und der Vorhang fiel, ohne dass Geschichte je zu Ende wäre.

„Ich verstehe Sie“, sagte ich durch das geöffnete Seitenfenster – und meinte es. Es gab nichts mehr zu erörtern. Wir wünschten uns gegenseitig ein schönes Leben.

Am nächsten Morgen war ich in Schlagweite zum italienischen Rhythmus angelangt und im entspannt quirligen Lebensgefühl angekommen. Eine kleine Espressobar neben der Kirche sollte meine allmorgendliche und -abendliche Anlaufstelle werden. In der Frühe ist es besonders vital. Die Stadt pulsiert und der Alltag einzelner Einwohner ist erlebbar und ein Stück weit erfahrbar. Wie beim Avvocato – dem Anwalt, der seinen Espresso direkt nach dem kurzen Gang in die Kirche dem Getränkenamen entsprechend schnell trinkt und noch etwas in seiner Aktentasche herumwühlt, bevor er eilig aufbricht. Ich ließ es ruhiger angehen. Eher wie der freundliche Hausarzt, der zwischen seinen Besuchen dort einkehrte. Er gehörte gefühlsmäßig zur Familie der Wirtin. Ein Typ, wie er in meiner Vorstellung nicht authentischer hätte sein können. Er war Anfang vierzig, aber er sah einige Jahre älter aus. Sein Haar war schütter und nach hinten gekämmt. Er trug helle, nicht weiße Kleidung. Mittelbraune Slipper ließen seinen gut gelaunten, kräftig gedrungenen Köper an leichten Füßen durch die Stadt manövrieren. Es waren laute Begrüßungen, wenn er vorbeiging. Freundlich bis frotzelnd anmutende Kommentare waren seine Begleiter. Der Arzt rief vom Gehweg aus. Der junge Mann hinter der Bar von dort und die Wirtin stand gestikulierend, mit schallender Stimme am Eingang, neben dem sie saß.

Dass ich eine Routenplanung für die Woche erarbeitet hätte, wäre gelogen. Das Verlaufen war in den verbliebenen fünf Tagen in Rom eine sichere Bank. Es gibt unendlich viel zu sehen. Dabei aus verschiedenen Richtungen an dieselben Orte zu kommen, bringt neben der Überraschung auch neue Ansichten, und bei mir sorgte es für ein Gefühl der wachsenden Ortskenntnis. Zumindest wurde mir die Umgebung vertrauter. Manchmal können Smartphones ein Segen sein. Beim Reisen sind sie – ganz zu schweigen von ihrer Allgegenwart bei Buchungen, Restaurantchecks, Taxiruf, was auch immer – nützlich. Ich falle nicht gern als Tourist auf und so ringe ich meinem Gesicht in einer fremden Stadt einen ortskennenden Ausdruck ab. Immer in Verbindung mit einer stetigen, niemals zögerlichen Vorwärtsbewegung meines Fahrgestells. Da heißt es, Zähne zusammenbeißen, wenn man an der falschen Stelle einer Stadt im Nirgendwo landet. Heute setze ich mich vor der desaströsen Orientierungslosigkeit in ein Café und betrachte mich, während neben mir die anderen Gäste chatten oder posten, als Geodaten repräsentierender Punkt im Stadtgrundriss. Das gab es damals nicht und ich ging mit dem verächtlichen Blick einer Einheimischen an den Menschen mit den aufgefalteten, mit gestreckten Armen gehaltenen Riesenplänen vorbei – in die falsche Richtung. Es kam auf die Länge meines Aufenthalts an, ob ich, in Molekularbewegung mäandernd alle touristischen Highlights einer Stadt sah. Einheimische und deren Lokalitäten fand ich immer und gewann Eindrücke, die ich nicht missen möchte. Klar hatte ich mir die Highlights gemerkt und meinen Reiseführer in der Tasche. Petersplatz und Dom, Sixtinische Kapelle, Spanische Treppe, Trevibrunnen, Piazza Navona, Pantheon und der alte Ortsteil Trastevere standen als Orte fest, an denen ich nicht vorbeilaufen wollte. Ganz ehrlich: Weder das Kolosseum, die Katakomben, nicht einmal das Forum Romanum in seiner Gesamtheit, hatten mich umgehauen. Woran das liegt, dass ich auf der Akropolis und in Delphi andere Gefühle, eine tiefer empfundene Nähe inmitten der alten Klamotten hatte, mag erklärbar sein. Nicht für mich. Möglich, dass es die isolierte und oft auch erhabene Örtlichkeit ist, die den Unterschied macht. Ich will gar nicht behaupten, dass der Weg das Ziel ist. Es ist aber anders, in der Hitze einen trockenen Berg hochzulatschen und dann inmitten der Überreste der damaligen Bebauung über eine Landschaft zu blicken. Das ist ein leichtes, direktes Mitfühlen und Hineinversetzen. Anders, als kurz aus dem Bus zu hüpfen und mitten in der modernen Stadt zwischen Espresso und Gelato zum Circus Maximus durch den Verkehr zu eiern. Reine Gefühlssache bei mir. In Rom hatte ich es einmal wieder auf die Renaissance abgesehen. Ausrutscher in die erweiterte Begeisterung gab es ständig. Berninis obeliskentragender Elefant hinter dem Pantheon oder die Kirche Il Gesù sind nur zwei Beispiele, die der immensen Fülle von Schönheit noch mal herausragen. Umgehauen haben mich zwei Skulpturen Michelangelos, die völlig verschieden sind und doch zwei Seiten einer Medaille sein könnten. Der Moses in San Pietro in Vincoli beeindruckte mich mit seinen proportional verfälschten Unterschenkeln. Die Skulptur ist voller Kraft und Härte. – Im Weltlichen stehend, das Göttliche verkündend. Ganz anders die Pietà im Petersdom. Die Schönheit und Ebenmäßigkeit des Gesichtes der Maria, die den toten Körper Jesu hält, berühren mich zutiefst. Sie hat zeitlose Züge und hält das Endliche und das Universale im Arm.

Mit den Tagen begann ich mich in Rom besser einzufühlen und auszukennen. Ich hatte nicht nur mein Stammcaffè, die Espressobar beim Hotel, sondern auch eine Lieblingssäule auf dem Petersplatz, an der ich täglich saß. In Gefühlen über die Hoffnung und den Trost der Proportionen und Räume schwelgend …. „Hey, Anna“, kam ich mit einer herzlich-lautstarken Begrüßung zurück auf den Boden.

„Da bist du ja.“ Antje aus Kiel kam auf mich zu gestrotzt. Sie war mit einer Reisegruppe unterwegs und wir saßen im selben Flugzeug. Dort hatte sie mir gesagt, dass ich perfekt zu etlichen Leuten aus der Kieler Schwulenszene passen würde. „Ist das nicht toll hier?“

„Ja, das ist der Wahnsinn.“

„Wir müssen weiter. Da rein.“ Sie nickte Richtung Petersdom. „Komm nach Kiel. Sie werden dich lieben“, sagte sie, umarmte mich, rückte ihren kleinen Stadtrucksack zurecht und flitzte ihrer Gruppe hinterher.

In meiner Espressobar gehörte ich schnell zum erweiterten Inventar. – Das liegt sicher nicht daran, dass mich eine Aura umgeben würde oder ich dafür geeignet wäre, die Massen zu unterhalten. Es ist ein simples Prinzip, das ich nutze, wenn ich an einem fremden Ort bin. Voraussetzung ist, dass der Aufenthalt mindestens drei Tage andauert. Ich wähle mir schnell Stammplätze aus. Oft sind das Cafés, die ich regelmäßig zu den gleichen Zeiten aufsuche. Entgegen meiner Neigung, mich nicht lange an einem Ort aufzuhalten, nehme ich mir die Muße, die üblich ist, um den Anschein zu erwecken, dass es mir dort gefällt. Das ist auch so, aber ich habe Hummeln im Hintern und nicht das Ansinnen, mich stundenlang mit einem Kaffee oder einem Glas Wein zu beschäftigen. In der kleinen Espressobar bei Santa Maria Maggiore hatte es abermals gut funktioniert. Zu gut. Die Wirtin und der Kellner plauderten mit mir, als sei ich schon länger da, wohl wissend, dass sich bald wieder abreisen würde. Der Hausarzt ging vorbei, aber nickte nur kurz und hatte einen hochroten Kopf. Die nachbarschaftliche Sorge um seinen Singlehaushalt war dann doch ein bisschen sehr lösungsorientiert. Er schien überrumpelt. Ich saß draußen am Tisch neben dem Eingang.

Die Signora stand in der offen gehaltenen Tür und fragte mich: „Das ist unser Arzt hier im Quartier. Er ist ein ganz liebenswerter Mann. Ihr solltet heiraten. Das wäre genau der Richtige. Was hältst du davon?“ Das Zeitfenster mag ein wenig Geschwindigkeit in eine mir wie ihm vorher unbekannte Angelegenheit gebracht zu haben.

Zumindest hatte sie mich gefragt. Ich hätte überrascht, echauffiert oder geschmeichelt sein können. Nichts dergleichen. Es ging von meiner Seite nahtlos weiter. „Un momento“, sagte ich, holte mein Handy aus der Jacke und wählte die letzte Nummer, die ich angerufen hatte. „Liebling, willst du mich noch?“ – „Was das heißen soll? Das ist eine durchaus berechtigte Frage. Entweder möchtest du unsere Ehe fortsetzten, dann komme ich zurück oder du hast kein Interesse mehr an mir. Hier wird meine bevorstehende Verlobung besprochen. – VER-LO-BUNG. Also, was sagst du?“ – „Gut, das wäre geklärt. Tschüss.“ Ich drehte mich zurück zur Signora und teilte ihr mein Bedauern mit, dass aus der Hochzeit nichts würde. Der Mann, mit dem ich bereits verheiratet war, hatte mehr oder minder überzeugend zum Ausdruck gebracht hatte, dass er mich nicht abgeben wollte.

Einen besonderen Eindruck hat der alte Stadtteil Trastevere auf der anderen Seite des Tibers südlich vom Vatikan hinterlassen. Damals war es noch nicht die trendige, hippe und teure Gegend, die es jetzt ist. Verwahrlost ist sicherlich das falsche Wort. Es war bewohnt urban, nachbarschaftlich. Nahezu sämtliche Häuser waren den geringen Mietpreisen entsprechend lange nicht gestrichen worden. Die Einwohner kannten sich, und Touristen waren nicht unbedingt dort, um Urlaubsfotos zu machen. Auf der schönsten Piazza, der Piazza Santa Maria in Trastevere, gegenüber der namensgebenden Kirche setzte ich mich draußen an einen Tisch und wartete auf die Karte, die es nicht gab. Der Wirt kam raus, strahlte mich an und packte meinen Oberarm.

„Kommen Sie Signora. Kommen Sie.“ Sein Griff war nicht dominant, sondern leitend. Eher schützend als fordernd. Wir gingen durch das Lokal nach hinten. Auf einem Brett zwischen den Pfannen und Töpfen stand eine mit Eis gefüllte Edelstahlwanne. Darin befanden sich Fische und anderes Getier. „Welchen möchtest du?“ – ›Sobald man in der Küche landet, sind wir also beim ›Du‹ und es ist vorbei mit den ›Signora‹. Soll ich kochen?‹, dachte ich. Was da im Einzelnen präsentiert wurde, war mir in ungekochtem oder nicht gegrilltem Zustand völlig unbekannt. Na ja, der Tintenfisch und die Calamari waren klar. Die Sardinen und sogar die Doraden glaubte ich sicher zu erkennen. Thun- und Schwertfischabschnitte konnte ich nicht unterscheiden. Die anderen Fische sahen alle ähnlich aus; wie Fische eben. Sie waren mir fremd. Ich zuckte mit den Achseln und der Wirt griff nach einem Fisch und lachte. Ich ging wieder raus an meinen Tisch und genoss den anklingenden Abend sowie das gegrillte Essen. Das Lokal war voll mit Leuten aus der Nachbarschaft. Heute verkehrt dort eher internationales Publikum, obwohl das ja auch schon nebenan wohnt. Das Geschäft scheint zu brummen, denn sie haben sogar eine Filiale mit typisch römische Küche in Hongkong aufgemacht.

Essen ist bei mir ein spezielles Thema. Mit ›Schnecke an Salatblatt‹ oder ›Cappuccino vom Aal‹, mit jedem Chichi, angestrengten Gesichtern und zelebrierter Kulinarik kann man mich jagen. Klar esse ich gern gut. Aber was ist gut? Im bayrischen Biergarten mit Blasmusik ist es mir wurscht, ob der Kenner sich vertut und mir die Käsespätzle statt der Ochsenbäckchen bringt. Das Ambiente ist mir wichtiger. Eine tolle Aussicht oder eine kleine Piazza, allein oder mit mir Menschen am Tisch, die das Beisammensein genießen, ist wunderbar. Das Caffè Florian in Venedig auf dem Markusplatz mit einem Streichquartett schräg davor, ist für mich etwas ganz Besonderes. Die bestellte halbe Ente mit Blick auf einen bayerischen See auch. Noch beeindruckender, wenn die Brust der Ente unter der Haut ausgelöst und geklaut ist. Der Hohlraum wurde mit Rotkohl aufgefüllt. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine Bratwurst auf dem Weihnachtsmarkt mit dem Hund zu teilen, ist großartig. Nichts gegen elegantes Essen, wenn das Ambiente stimmt. Eine Kerze oder ein Windlicht ist doch nett. Und wenn schon Mini-Blumentöpfchen auf dem Tisch stehen, fände ich es freundlich, mich nicht genötigt zu fühlen, den Zeigefinger in die Erde, den Schwamm, das Substrat zu drücken, weil ich die Ahnung habe, dass sie nicht gegossen werden. Das Positive ist, dass ich in den kleinen Dingen – beim einfachen Genuss und der Mängelfeststellung – überhaupt keine Eingewöhnungszeit benötige. Ich fühle mich gleich wie zu Hause.

Die Woche in Rom war – vieles. Turbulent? Kulturüberladen? Anstrengend? Anregend? Menschelnd? – Im Grunde war es Liebe auf den ersten Blick und auf allen weiteren, die ihm in dieser einen Woche begeistert folgten. Eine Flut der Sinnlichkeit unterschiedlicher Arten. Rom. – Mein Aufenthalt sollte nicht zu den präsenteren Erinnerungen an Urlaube gehören. Da waren andere Orte, Ereignisse und Begegnungen, die sich mir mehr aufdrängen. Rom hatte mich einfach eintreten lassen und es geschah. Eine Mischung aus Sog und Entlastung. Inmitten der alten Klamotten künstlerischer und baulicher Erhebung ist das pure Leben. Die Postkartenmotive sind Teil von etwas Größerem. Ich fühlte mich nicht wie im Urlaub, sondern zu Hause.

Erschöpft wie auch befreit, mit den Ballerinas in der Hand humpelte ich barfuß die Gangway hoch in das Flugzeug, das mich zurück nach Hamburg bringen würde. Das Barfußlaufen am letzten Tag war Ausdruck von tiefergehenden Gefühlen der simpleren Art. Im Taxi zum Flughafen wurde mir klar, dass ich keinen Schritt weiter in den Schraubstöcken gehen könnte. Meine Füße waren geschwollen und voller Blasen unter den zwölf stümperhaft raufgehauenen Pflastern aus der Apotheke, die an Carlos Standhaftigkeit mitwirkte. Auf dem Zimmer und beim Frühstück funktionierte das Gehen bei mir noch einigermaßen. Aber spätestens im Taxi passten mir die Schuhe nicht mehr. Die Schmerzen hätte ich wie den vergangenen drei Tagen locker weggesteckt. Als ich die Ballerinas im Wagen kurz auszog, um an irgendetwas Belanglosem wie einem losen Pflasterrand herumzuzupfen, kam ich nicht mehr rein. Nicht einmal mit den wulstigen Zehen, die aussahen wie die abgesteppten Flossen einer der prall gestopften Stofftierrobben aus dem Lieblingsspielzeuggeschäft meines Sohnes in Wyk auf Föhr. Die Farbkombination war bei mir üppiger. Beseelt und genährt von Eindrücken tanzte ich in Gedanken die Gangway nach oben. Ich war frei und die Ewige Stadt hatte mir gezeigt, dass zwar vieles vergänglich ist, aber es immer weiter geht. Jede Zeit kann ihre Chance auf eine Blüte bekommen. Fußschmerzen? Völlig egal. Wie eine schlecht getapte Bodenturnerin, angeschlagen von der letzten Landung humpelte ich nach bestandener Prüfung ins Flugzeug. Glücklich und mit mir im Reinen.

Zuhause erwartete mich meine geliebte Familie. Genau genommen warteten sie nicht einmal, sondern gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Zumindest das Haus zeigte mir überdeutlich, dass ich ihm gefehlt hatte.

Crashkurs Napoli

Neapel

Nun aber saß ich nicht auf der Piazza Navona oder im Flieger, sondern auf der Rückbank. Vor mir saß – mit der Verlobten an seiner Seite und einem Dosenkoffeinsirup in der Hand – seines Vaters Sohn – Herr Mayer.

Die Abruzzen im Rücken und Rom rechts liegen lassen. Ich war unwissend froh über den entgangenen Gewinn, dass sie mir die Erinnerungen an Augenblicke der Freiheit nicht versauten, indem sie diese mit Querschlägern übertünchten. Mir war gewahr, dass ich nicht mich, sondern Rom schützte, als mein Sohn fragte, ob wir „kurz runter“ fahren wollten. Die Hatz durch Venedig mit „Schatz“ und „Schaatz“ hatte bereit an etlichen meiner geliebten Schätze aus der Vergangenheit zu Erosionen geführt. Sie würden es überstehen. Die Ewige Stadt zog am Fenster der Rückbank vorbei, ohne dass ich sie sehen konnte.

Der nächste schutzbefohlene Ort, Neapel, war nicht auf dem Speiseplan des jungen Glücks.

„Da hinten hatte ein Müllberg gebrannt, als wir landeten“, wusste mein Sohn seiner Angebeteten zu berichten. Er war auch sonst kein Neapel-Fan. „Wozu da hin? Kaputte, schäbige Häuser, Kriminalität, Wäscheleinen über der Straße und eine ehemalige Sommerfrische unter der Vulkanasche.“

›Er ist so feinfühlig.‹

„Schatz, willst du da hin. Die haben zumindest die Pizza Margarita erfunden.“

„Ich denke, das ist besser, wenn wir direkt Amaaalfi gehen.“

Schweigend stimmte ich ihr zu. Ich blickte zum Vesuv und dachte an einen nur für mich langweiligen Urlaub auf Ischia, bei dem mein Mann es auf die Heilquellen von Nitrodi abgesehen hatte und mein Sohn auf Sozialkontakte. Mich schleppten sie zur Erbauung zu einem Klosterfelsen, auf dem mumifizierte Nonnen in den Nischen kauerten.

Neben uns war der Vesuv. Wenn ich den sehe, denke ich an europäische Geschichte.

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