Die Hütte am See 2: Ohne Netz und ohne Frau
Finnland
Die Sonne schien. Die Luft roch nach Wald und Sommer. Meine Familie war mehr als den halben Tag auf dem Wasser. Sie suchten in der Landschaft aus verbundenen Seen einen geeigneten Platz für ihr Stellnetz. Was für Fische sie überhaupt fangen könnten, sagte ihnen die Maschenweite. Damit war die Minimalgröße klar. Was für Arten es wären, wussten sie nicht. Sie hätten auch den finnischen Onkel von Nessie angeschleppt, wenn dafür Wertungspunkte auf ihrer nach oben offenen Selbstbestätigungsskala zu erringen gewesen wären. Tags darauf fuhren sie alle – mein Sohn natürlich wie immer dabei – mit Fischernetz auf den See. Diesmal begleitete ich sie. Die finnische Gemeinschaft des Dorfes zwei Tage zuvor hatte mir Mut und Schub gegeben, die Dinge anders zu sehen. Ich wollte mehr oder minder aktiv teilnehmen.
Wir donnerten in einem Affenzahn über den endlosen See und das Boot fuhr nicht einfach – es galoppierte durch das Wasser und schlug bretternd auf den kleinen Wellen auf. Ich wollte alles aus mir rauslassen. Noch mehr versuchte ich, es zu verhindern. Einer der begeisterten Raser sah seine dicht an der Bodenplatte kauernde Ehefrau mit Erbarmen an. Mein Gesicht verfärbte sich mit jedem Hüpfer stärker von aschfahl nach gelbgrün. Ich klammerte mich an einem auf dem Schlauch aufgeklebten Haltegriff. Er hatte eine rettende Eingebung. „Da vorne ist eine Insel. Wir setzen dich ab. Hast du was zu lesen dabei? Wir sind nicht lange weg und fahren dann langsam zur Hütte zurück.“
Ich hatte ein dickes Buch dabei und damit gerechnet, den halben Tag im Boot zu verbringen. Ich tue mich schon schwer, in einem sanft dahingleitenden Auto zu lesen. Ein wenig wagte ich zu hoffen, dass wir vielleicht doch an so etwas wie einem Anleger mit einem daneben befindlichen Café vorbeikämen. ›Ich würde dort geduldig warten.‹
Dass sie am Vortag in gefühlt halb Finnland übers Wasser durch die Einsamkeit geknattert waren, um ihr blödes Netz aufzuspannen, hielt ich bis dahin für eine maskuline Übertreibung, bei der meine Schwester gern mitzog. Von Aussetzen war zuvor keine Rede. Egal, das Wetter zeigte sich von seiner gefälligen Natur. Die Landschaft ginge als wildes Stillleben durch, wenn man erst mal vom See runter wäre. Und ich liebte Sonnenbräune mehr als ein flaues Grün im Gesicht. Ein Spaziergang ist auch drin. Außen rum, falls sie eher als erwartet kämen und mich vom Wasser aus suchten. ›Ich werde meinen Gedanken nachhängen, lesen und warten.‹ Letzteres muss gelernt sein. Es war Training für den später kommenden Lebensabschnitt, die inaktiven Zeiten inmitten von Fahrdiensten für Einzelne und Gruppen von Teenagern zu Partys, Kino und Sport sinnvoll durchzustehen. Hunger hatte ich keinen und Verdursten war schwerer als das Ertrinken vorstellbar. ›Erst einmal von diesem kippeligen Gummiboot runterkommen.‹
„Gute Idee. Ihr macht euer Ding und ich genieße die Sonne. Solang ihr mich nicht vergesst …“, sagte ich und bereute den oberlehrerhaften Spaßbremsenton. „Aber passt auf euch auf, vor allem auf mein Kind“, rutschte es mir dann doch raus, als ich endlich unbewegtes Gestein unter meinen nackten Füßen hatte.
„Wir sind nicht lange weg. In zwei Stunden holen wir dich wieder ab.“
Die Gummistiefel hatte ich in der Hand. Ich trug nur ein Bikinihöschen am Leib.
„Viel Spaß!“, rief ich ihnen hastig hinterher, bevor der Außenborder brüllend aufdrehte.
Ich blickte Ihnen nach, bis sie als zunächst orangener, dann grauer Punkt in der Ferne hinter einer Landzunge verschwanden. Gehört hatte ich sie längst nicht mehr.
›Inselrundgang!‹ Nach zwölf Minuten war ich trotz unwegsamen Geländes wieder am Ausgangspunkt. Es gab etliche sonnige Plätzchen auf dem im Inneren bewaldeten Eiland. Das Inselchen lag in meiner nicht zwingend korrekten Wahrnehmung mindestens zwei Kilometer vom Ufer entfernt –mitten im See. Am Absatzort nahm ich auf einem Felsen abseits der Vegetation Platz. Dies tat ich nicht, ohne zuvor im Umkreis nach sonnenanbetenden Reptilien Ausschau zu halten. Eine Stelle mit etwas Geröll und Spalten mied ich. Es ist keine Angst, sondern Vorsicht in Bezug auf Schlangen. Qualitativ mehr als eine Kreuzotter würde es nicht sein. Da ich auf Bienenstiche hochgradig allergisch reagieren und nach Luft japse, hatte ich kein Interesse, herauszufinden, ob Schlangengift bei mir eine Lachnummer wäre. Ich hatte weder ein Gegenmittel noch einen krampflösenden Schockverhinderer dabei. Ich besitze nicht einmal Heuschnupfenspray. Mein Mann hatte keine Angst vor Schlangen. – Er hatte Panik. Selbst bei Blindschleichen führte er sich auf, als müsste er das Böse besiegen – nachdem er erst einmal abgehauen war. – Vielleicht war es doch Angst. Die leicht erhöhte Position gab mir einen guten Überblick und ich konnte sehen, wenn meine Familie zurückkäme. ›Hübsch hier. Auf dieser Insel könnte ich leben. Ein Holzhäuschen direkt am Wasser, eine Kuh, Ziegen, ein paar Hühner, ein kaltblütiges, altes Pferd ….‹ Eine Weile träumte ich mir eine Existenz dort zum Idyll. Dann übernahm meine linke Gehirnhälfte. Notwendige Anpassungen der Wildnis an nicht aus dem Bewusstsein wegzudenkende Ordnungssysteme waren vorzunehmen: ›Wenn dem Kind was passiert, muss es schnell ins Krankenhaus: Ein Rennboot … – oder ein Landeplatz für einen Rettungshubschrauber. Wie soll mein Sohn in die Schule? Was ist mit Winterfütterung? Für Kuh und Gaul allein müssten sämtliche Bäume der Insel von uns gerodet werden. – Zumindest das Feuerholz würde für Generationen gesichert. Was macht mein Mann den ganzen Tag? Und ich? Können Hühner schwimmen? …‹ Ich beugte mich am Ufer vor, um etwas zu trinken, und schöpfte mit den Händen Seewasser. Das Wasser schien sauber, wenn die Hundertschaften von roten Wasserflöhen in meinen Händen ein Indikator dafür sein sollten. ›Hach, die Natur.‹
Meine Familie hatte inzwischen ihr Netz voll mit Flussbarschen. Den Namen der Art erfuhren sie später – auf Finnisch. Beim Einholen des Netzes machten sie erneut Bekanntschaft mit der lokalen Bevölkerung. Diesmal mit einigen Personen auf einem etwas größeren Boot. Die Geschichte mit dem Netz soll sich etwa so zugetragen haben: Einer der Finnen hatte sich als Dorfpolizist vorgestellt. Er war auch zuständig für die Einhaltung der Gesetze und Verordnungen der Fischerei. Trotz unüberwindbarer sprachlicher Hindernisse kapierten meine Helden, was das Problem war. Bei nicht einheimischen Fischern war das Fangen mit zwanzig Meter langen Stellnetzen nun überhaupt nicht gewünscht.
Gegen jegliche Forderungen von Strafe wehrte sich meine Familie. Gegen das bereits in Gange befindliche Konfiszieren des Fanggerätes ging mein Mann vor. Er behauptete, äußerst gesittet argumentiert zu haben. Wahrscheinlich war es anders. Mein späterer Schwager war im Endspurt seines Studiums der Rechtswissenschaften. Er bekam was durcheinander, wenn er auf einen Präzedenzfall aus war.
Etwas, was ich nicht einmal meinem fünfjährigen Sohn entlocken konnte, war passiert, denn sie fuhren angeleint im Schleppschnürchen des Flaggschiffs, dem Polizeiboot, zum Kleinstdorf. Dort befand sich die örtliche Polizeidienststelle. Im Dorf war der Trubel groß. Auf einer kleinen Lichtung, dem Dorfplatz, saßen sie noch bei Tageslicht an einem Feuer, das die Mücken fernhielt. Es gab Kaffee und selbst gebackenen Heidelbeerkuchen mit fast buttriger Schlagsahne. Diese war nach Aussage meiner Schwester mit mäßigem diätischen Gehalt und hoher Festigkeit. „Die war so gelb und fett, dass die Gabel fast abbrach“, sagte Schwesterchen und übte sich im Anglerlatein. Nach der Beschreibung seiner Konsistenz war die Kuchenbasis ein Mürbeteig. „Dünn, hart und knochentrocken. Die können damit unsere Fische aufschlitzen und ausnehmen.“
Intuitiv blieb ich mit meinen Fragen bei unverfänglichen, für mich gänzlich uninteressanten Details. Eine drohende Welle von geahnten Peinlichkeiten wollte ich vermeiden. Eigentümlich, denn Fremdschämen gehörte zu meinem Job wie Hausarbeit. Die Geschichten auf dem Präsentierteller zu hören, war unvermeidbar. Sie hatten gelöste Zungen, denn es wurde nicht nur Kaffee in den blaugesprenkelten Emailbechern gereicht. Über die Höhe der Strafe für das illegale Fischen mit Netz wurde bei selbstgebrannten Geistern und Bränden zwischen den ergriffenen und verschleppten Rechtsbrechern und Repräsentanten der Ordnungshoheit verhandelt.
Das Gesetz war unüblichweise vertreten durch eben den Dorfpolizisten. Er trug aus Prinzip nur Zivilkleidung. Eine ergänzende Partei zivilrechtlicher Gerichtsbarkeit, die bei Delikten überschaubarer Natur mit hoher Wahrscheinlichkeit der Resozialisierung eintritt, wurde vertreten durch den Bürgermeister. Es ist das Amt, das derzeit der Polizist und hauptberufliche Landwirt ebenfalls innehatte.
Es hätte sofort und in kleinster Beteiligtenzahl geregelt werden können. Allerdings galt es als unhöflich, Nachbarn oder kurz vor der inoffiziellen Einbürgerung stehende ›Gäste‹ – mir dem gewählten Ortsvorsteher ganz alleine Schnäpse kippen zu lassen. Sie verhandelten und feilschten, doch das Netz blieb konfisziert. Es hatte Begehrlichkeiten geweckt. Der offizielle Weg mit Strafe oder Ordnungsgeld wäre mit Papierkram infolge einer Anzeige und mit einem Protokoll verbunden gewesen. Daher einigten die Parteien sich mit sogar noch zunehmender gegenseitiger Hochachtung auf ein Tauschgeschäft: Teures Netz gegen …, tja, irgendwie niedlich, wie mir mein Sohn begeistert die zuchterdbeergroße, oben rot lackierte Korkpose in der Kinderhand präsentierte. Sie hatte einen weißen Streifen für die Wasserlinie und ein schwarzes Plastikröhrchen in der Längsachse, durch das vermutlich Angelschnur gefädelt werden konnte. Ich war geneigt, die tischtennisballgroße Pose zu streicheln und ihr ein Stückchen Käse hinzuhalten.
Ihre Landung mit der spanischen Galeone und der Geschenkaustausch mit den Einheimischen beschrieben meine Liebsten mir spät am Abend, mittlerweile nüchtern zu Hause in der Hütte.
Sie waren schon früher dort gewesen, um pünktlich zum Abendessen zu sein. Bravourös hielten sie sich ein wenig an die Regeln, die zumindest Orientierungshilfen einer gesellschaftlichen Ordnung widerspiegeln. In diesem Fall war es egal. Das Essen stand nicht auf dem nicht gedeckten Tisch auf der Terrasse und die Sauna hatte ich auch nicht auf Betriebstemperatur gebracht. Mein Fehler: Ich saß noch auf der Insel, an der sie vorbeigebrettert waren.
In mir erwuchs aus der Saat ein Gefühl von Einsamkeit, das schlimmer ist als der Seinszustand an sich. Den kann man werten und er verdient eine Trauerphase. Es war wie das Feuer, verlassen zu werden und trotzdem die Leere zu spüren, weil ich einfach nur vergessen wurde. Es gibt keine lodernden Schwelbrände und doch zündete es bei mir in einer Tour mit der ständigen Gefahr eines eigentlich ungewollten emotionalen Schubes. Der würde so viel Sauerstoff einblasen, dass der ganze Laden – ich – in der Kettenreaktion einer Staubexplosion hochgehen würde.
›Da kommt ein Boot. Endlich.‹ In dem schnurstracks vorbeifahrenden Holzboot saßen zwei Männer. In meiner Nacktheit bin ich lieber hinter ein Gebüsch gehechtet und beobachtete sie. Ich hatte keine Angst vor ihnen. Meine Nacktheit war kein Problem für mich. – Es war mir peinlich, auf Hilfe zu hoffen, obwohl meine Familie sich in der Nähe befand.
Eine Zeit lang war ich mit Wut, Selbstgesprächen, Schuldzuweisungen und Selbsthinterfragungen beschäftigt – bevor ich losheulte. Das dauerte einige wenige Minuten, die sich wie Jahre anfühlten. Danach setzte keine Erschöpfung ein, sondern kraftvolle Entschlossenheit. Meine Sinne und mein Herz erkalteten. Barfuß und fast nackt stand auf und blickte starr über den See. Es war mitsommerlich hell am Abend. Der Entschluss über das selbst gewählte Ende lag vor mir als Siegel meiner Seele: ruhig, kalt und scheinbar leer. Ich spürte den noch von der Sonne erwärmten Fels unter meinen Zehen. Gleich im Wasser würde es schnell gehen. ›Alles eine Frage der Disziplin‹, dachte ich im Stakkato, nur Fragmente von Gedanken, die mich meinem erklärten Ziel unbeirrt näher bringen sollten. Ich ging Richtung See.
›Um Hillels Willen. Bist du wahnsinnig?‹, sagte ich zu mir und schreckte über den eigenen Wagemut auf. ›Hier können Giftschlangen sein, die sich auf den Felsen wärmen oder im Heidekraut schlafen und ich laufe barfuß herum.‹ Eilig, aber übervorsichtig ging ich zu meinem Platz zurück und zog die Gummistiefel an, um nicht sogar tödlich gebissen zu werden, bevor ich meinem Leben ein Ende setzen würde.
Da stand ich nun im bunten Höschen mit den dünnen Beinen in dunkelblauen Gummistiefeln. Meine Gedanken blieben an den einen oder anderen Paradoxon im Leben – selbst oder von den Lieben herbeigeführt – hängen. Ich war immer noch sauer, aber die nicht unmögliche Präsenz des Absurden relativiert so manche scheinbar unbeirrte Entschlossenheit. Ich setzte mich und wartete in abschweifende Gedanken und Erinnerungen versunken.
Die beiden Männer – Mayer Senior und mein späterer Schwager – kamen angeprescht und luden mich ins Boot. Ich war wieder auf Betriebstemperatur und meckerte. Sie blieben geduldig, ohne devot zu sein. Besonnen warteten auf die Gelegenheit, endlich mit flüchtigen Fahnen von ihrem Verhandlungsgeschick beim Gelage zu erzählen. Ihre Geschichte war bunter als meine. Geselliger war sie sicher.
Bei uns gab es Nudelauflauf. Die Barsche waren im Dorf geblieben. Später hatten die Glorreichen doch noch Angelerfolg. Sie fingen einen gewaltigen Hecht in einem Meer von Seerosen. Standortwahl? Zufall. Köder? Keinen. Angel? Fehlanzeige. Er schwamm – eher sonnte er sich – direkt neben dem unbewegten Boot, Millimeter unter der Wasseroberfläche und lugte zwischen den schwimmenden Blättern hervor, als mein Mann ihm einen Schlag mit dem Paddel verpasste. Sie brachten die Trophäe zur Hütte und fotografierten das noch benommene Tier in einer roten Waschschüssel. Als ich sie aufforderte, den Hecht, den sie offensichtlich essen wollten – sonst macht man so etwas nicht – zu erlösen, retournierten sie ihn behände runter zum See. Dort ließen sie ihn frei und goutierten seine einsetzenden Schwimmbewegungen, bis er in der Tiefe verschwand. Das Absurde begegnet mir überall. Manchmal in Gestalt von unvorbereiteten, aber hochgerüsteten Anglern mit einer heimlichen Leidenschaft, gepökeltes Frühstückfleisch aus der Blechkonserve zu wickeln.
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