Lesen mit Hindernissen
Zuhause
Mit den Comics des Unterhaltungskonzerns hatte ich ihm einige Jahre zuvor das Lesen beigebracht. Ich hatte es aufgegeben, es auf die klassische Weise zu versuchen. Es funktionierte nicht – weil er nicht wollte. Das Lernen mit Bilderbüchern war nicht sein Ding. Zu wenig Text und kaum Handlung. Ob da etwas gut oder süß gemalt war, interessierte ihn nicht die Spur. Auch die Kombination aus Fragen und Wimmelbildern war nicht spannend. Bücher ohne Abbildungen empfand er aus umgekehrtem Grund bescheiden, also ›doof‹. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Ich hatte die Lust verloren, mit ihm darüber zu diskutieren, ob die Befähigung zum Lesen im Allgemeinen von Vorteil sein könnte. Er wollte sich stattdessen im Dreck austoben oder Mutproben mit den Kumpels durchziehen. Stundenlang im Mühlenbach stehen, um dann zu behaupten, fast eine Forelle gefangen zu haben – mit der Hand versteht sich – reizte ihn mehr. Also gab ich ihm Comics. Er wollte, dass ich sie ihm vorlese. Die Rabenmutter verweigerte die Leistung. Von da an ging es rasend schnell. Wenig später kam sein Grundschullehrer zu mir. „Frau Mayer, ihr Sohn kann ja lesen. Er macht das richtig gut und liest gern. Wie haben Sie das in der kurzen Zeit hinbekommen? Welchen pädagogischen Plan haben sie verfolgt? Belohnung?“
„Micky Maus. Er hat jetzt auch seine wöchentliche Illustrierte und besteht darauf. Das als Leidenschaft zu werten, halte ich für verfrüht. Er kann es und morgen kann er es nicht mehr oder er verliert das Interesse. Er ist ein Mayer.“
„Ich bin auch ein Meier“, sagte der Lehrer Meier mit ›E I‹.
Natürlich wurden die Comics Junior bald zu langweilig und wir führten ihn an Bücher heran. Das ging dann einfach. Die Brücken waren gebaut. Lesen konnte er. Anlässe, gleichberechtigt bei den Erwachsenen mitzumischen gab es mindestens einmal die Woche. Wir hatten wenig Geld, aber wir Eltern waren beide Raucher. Gleiches Recht für alle. Der Gegenwert einer Schachtel Zigaretten war damals ein Spielzeugauto. So bekam jeder in der Familie etwas Gleichwertiges. Mein Mann fuhr samstags mit dem Kind ins nächste Dorf zum Brötchenholen. Danach ging es ins Schreibwarengeschäft, das auch Spielzeug und Kinderbücher im Sortiment führte. Zunehmend wurden es bei Junior die Bücher statt der Autos. Das lag nicht zuletzt an einem schon beachtlichen Fuhrpark, der beim Anblick Besitzerstolz hervorrief, aber zugleich für eine Sättigung sorgte, weil die Sammlung im Ganzen schwer zu bespielen war.
Ich bin Leserin aus Leidenschaft, tauche in Geschichten ein und erfahre etwas über Zeiten, Orte und vor allem Menschen. Auf der Welle der Lesebereitschaft meines Kindes hatte ich später mit dem Versuch, ihn an Literatur heranzuführen, ein klein wenig übertrieben. In der Phase, als er Bücher las, wo zum Beispiel ein pummeliger Junge einen Propeller auf dem Rücken hatte, versuchte ich etwas. Ohne Vorwarnung jubelte ich ihm Werke über Sklaverei, Rassendiskriminierung und soziale Notstände in verschiedenen Ländern unter. Junior roch den Braten, zog es dennoch durch und kommentierte altersgemäß: „Warum soll ich mit erfundenen Problemen wildfremder Leute meine Zeit verbringen?“ ›Vielleicht liegt er richtig‹, dachte ich damals. ›Aber nur, wenn er später die realen Verzweiflungen und deren Ursachen kapiert, auch ohne es sich erlesen zu haben. Das Risiko gehe ich nicht ein. Was soll ich machen? Er kann lesen. Die Schule wird es fordern.‹ Praktisch konnte er antizipieren. Als es in der dritten Klasse Noten gab, verhandelte er mit dem Rektor. Er sagte er ihm auf dem Schulhof, er möge bei einem Klassenkameraden Milde walten lassen, da der sonst zu Hause eine ›gescheuert‹ bekäme.
Sein Urteil über ›Problembücher‹ färbte auf die gesamte Belletristik ab. Er legte eine komplette Lesepause ein. Von dem Schock, dem eine ernüchternde Erkenntnis folgte, schien er sich nie ganz erholt zu haben. Bücher über Mikrobiologie waren sein Trost. Wir sind verschieden.
Meinungen
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