Walk and talk like a Venetian
Venedig
Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mir Venedig am und im Herzen hängt. Das geht nicht einfach mit einer Skala von null bis zehn zu beziffern. Es ist mir unmöglich, es am Wetter auszumachen. Klar, im Hochsommer ist es touristenüberlaufen und bei Temperaturen über dreißig Grad ist es nicht ganz so klasse. Damals knatterten noch Ozeanriesen direkt an meiner Nase vorbei, bevor sie die Unruhe der Schaulustigen an Bord in die Stadt entleerten. Im Winter, wenn der Markusplatz tatsächlich mit Wasser statt mit Menschen und Tauben überflutet ist, habe ich Venedig noch nicht erlebt. Ich stelle es mir berauschend melancholisch vor, in der dünn besiedelten Stadt bei Nebel an den außen klammen Häusern in Gedanken vorbei zu streifen. In ihnen stelle ich mir gediegene Eleganz und einen die Seele wärmenden Reichtum an Erinnerungen vor. Ich würde in eine Osteria gehen, um mit den Einheimischen ein von Leben erfüllter Gegenpol zum Wetter zu werden. – Wahrscheinlich sind es für mich doch eher die mild temperierten Vor- und Nachsaisons. Mit wem man in Venedig ist, spielt eine gewichtigere Rolle, als mir lieb sein sollte. Die Lagunenstadt hatte ich, inklusive dieser skurrilen Reise mit Mayer Junior und seiner voraussichtlichen Frau Mayer-X – sie wollte ihren Namen beibehalten, – insgesamt fünf Mal besucht. Ich war mit Familie da, mit meinem Mann an unserem Hochzeitstag, und ich war allein am Start – einmal, um Italienisch zu lernen. Das mit dem Sprachunterricht kam mir zum ersten Mal auf der Hochzeitstagsreise in den Kopf. Ich wollte noch mal nach Venedig fahren. Ein Perspektivenwechsel. Das Kind war groß, mein Mann hatte seinen Job und seine Hobbys – und ich las viel. Es bot sich naheliegend an, in dem Land, das ich wegen seines Klimas und der Kultur liebe, die Sprache zu lernen. Warum also nicht in der Stadt, die mir auch aufgrund ihrer Enge, ihrer Besonderheiten und ihrer Geschichte nah ist?
Ich buchte einen vierwöchigen Kurs in der Akademie unweit vom Arsenal. Es wurden nur zwei Wochen draus. Eine kleine Pension zwischen Arsenal und Markusplatz war meine Unterbringung. Es fühlte sich an wie ein Wohnort – auf dem Weg, ein Zuhause werden zu können. Mit vollem Enthusiasmus stürze ich mich in den Italienischkurs – und stellte schon nach wenigen Tagen fest, dass mein Lernfortschritt sowohl bei Vokabeln als auch bei Grammatik unterirdisch war. Die zumeist jungen Leute im Kurs waren viel besser. Und der Abstand vergrößerte sich minütlich. Das könnte man gelassen nehmen. Die Liebe zum Land, den Menschen, der Kultur und der Sprache würde es in den vier Wochen im täglichen Umgang schon richten. Ich nahm es sportlich und bin ein guter Verlierer. Aber nicht im Wettkampf gegen mich selbst. Ich hatte es mir vorgenommen, doch es klappte irgendwie nicht. Nach dem Kurs erkundete ich die Stadt und ihre Inseln. Allabendlich saß ich auf dem Markusplatz im Caffè Florian. Mit dem Oberkellner gab es schnell eine gemeinsame Wellenlänge und wir freundeten uns an.
„Anna, wenn du wiederkommst, gehst du ins Hotel Metropole.“ Es schien nicht eine Sekunde an meine Rückkehr zu zweifeln.
„Warum? Was ist an dem Hotel besonders?“
„Das wirst du sehen. Du wirst es fühlen. Du wirst es atmen. Es passt zu dir. Ich bin Venezianer und kenne meine Stadt. Mach es einfach.“
Neugierig bin ich gleich zum Hotel Metropole geeiert, um es mir anzusehen, ohne reinzugehen und einen langen Hals zu machen. Es liegt am Wasser, direkt neben einer Kirche, in der Antonio Vivaldi gespielt hatte. Der berühmte venezianische Komponist und Geigenvirtuose gab Musikunterricht im Metropole und schrieb dort einige seiner bedeutendsten Werke. Das sollte ich auf meinem nächsten Besuch erfahren.
Mit dem Oberkellner war es mehr als eine Bekanntschaft, aber weniger als verwandtschaftlich. Für die kurze Zeit, die wir zusammen verbrachten, konnten wir uns nicht kennen. Es fühlte sich anders an. Wir hatten einen vertrauten, freundschaftlichen Umgang miteinander. – Respektvoll und doch genauso direkt. Abends, nach seiner Schicht gingen wir auch gemeinsam in fast ausschließlich von Venezianern besuchten ›Kneipen‹ essen. Die Lokale waren keine Geheimtipps und so sahen sie auch nicht aus. Für jemanden auf Reisen wäre da keine fast greifbare, symbolhafte Identität zu finden, die er oder sie als Erinnerung später hervorzaubern könnte. Es war die eigene Stimmung und das eigene Gefühl, die sich änderten – vielleicht auch anglichen. Ich kann nicht behaupten, dadurch ein neues, ein geheimes Venedig der Einheimischen kennengelernt zu haben. Es ist etwas anderes, wenn man durch eine derart imposante Stadt als Betrachter staunend wandelt und Eindrücke sammelt. Im beginnenden täglichen Trott stirbt das Flanieren. Die Gangart spielt keine Rolle. Ich kann ein Buch auf dem Kopf halten, wenn ich gehe. Die als Kind antrainierte Haltung ist geblieben – beim Gehen oder dem aufrechten Sitzen am Tisch. Es ist die Sichtweise, ob ich auf etwas von gefühlt außen zugreife oder mittendrin herumfuhrwerke. Von einem Ort zum anderen hetzen oder eiern, um einen Kurs zu besuchen, Leute zu treffen und anzufangen, sich in täglichen Gewohnheiten wiederzufinden und diese beizubehalten, zerrt mich vom Hochsitz und reißt mir das Fernglas aus den Händen.
Ich ging zwar noch leidenschaftslos zur Schule, aber es interessierte mich nicht mehr. Ich nutzte es auch nicht als Alibi der Geschäftigkeit oder Grund meiner Anwesenheit. Weniger italienisch habe ich deswegen nicht gesprochen – wahrscheinlich nur viel schlechter. Trotz eingespielter Routinen war ich nur Gast in der Stadt. Ganz oder gar nicht. Entweder umziehen, was überhaupt nicht zur Debatte stand – oder abreisen und wiederkommen, wenn mir danach wäre. Als Gast nach Venedig zu kommen, war meine einzige realistische Option. Da hätte ich mir sonst was einreden können.
Es fühlte sich dann doch irgendwie echt an. Die ›Heimkehr‹ in ›meine‹ Lagunenstadt feierte ich wenige Jahre später. Diesmal buchte ich tatsächlich das Hotel Metropole am Wasser. Das Haus ist von besonderem Reiz. Alles alt und mit prachtvoll überladenem Rot an Mobiliar und Vorhängen, in Form von feinen Stoffen und edlen Pigmenten ausgestattet und gekleidet. Auch das hoteleigene Restaurant ist in dem gleichen Stil. Zu meiner Zeit verkehrten dort hauptsächlich Venezianer zum Essen. Da kam das Wasser nicht in der Flasche, sondern in einer Kristallkaraffe. Edelste venezianische Backwaren waren auf einem silbernen Tablett reich und doch dezent gestapelt. Als alleinreisende Frau fand ich bei meiner Ankunft in dem Zimmer, das in der Mitte des Hauses mit wundervoller Aussicht zum Wasser liegt, einen Strauß Blumen vor. Die Einrichtung war wie das ganze Hotel. Opulent, detailreich und edel. Das wäre garantiert nichts für mein Mann gewesen. Es hätte ihn erdrückt. Er hätte als erstes nach Atemluft gesucht, gegebenenfalls die Krawatte gelockert, den obersten Knopf des Hemdes gelöst, hätte die Vorhänge beiseitegeschoben und die Fenster aufgerissen, trotz ausreichend Sauerstoff im Raum. Das Personal war freundlich und serviceorientiert, ohne dienend zu sein. Da wurde kein Gast hofiert, um ihn zu veräppeln oder das Trinkgeld in die Höhe zu treiben.
Natürlich war meine frühe, wenn nicht zweite Anlaufstelle das Caffè Florian. Der Oberkellner war noch da. Wenn wir uns nicht so geherzt hätten, wäre die Nähe selbstverständlich, als wäre ich nie weg gewesen. Ich war nur eine Woche in der Stadt. Aber ich hatte ja bereits beim vorherigen Aufenthalt so etwas wie einen Rhythmus gefunden. Verständlich, dass Menschen ihren Urlaub jedes Jahr den gleichen Orten verbringen, möglichst noch im selben Hotel, anstelle durch die Welt zu reisen und sich alles anzusehen. Es hat eine andere Qualität. Für mich kommt es darauf an, ob ich etwas Spezielles sehen und erleben will oder ob ich an einem Ort, der nicht mein Zuhause ist, ein Stück weit eintauche und vom Erlebnishunger loslasse. Mit den Vaporetti, den Wasserbussen von Venedig war ich genauso selbstverständlich unterwegs wie zu Fuß. Meine Basisstation war das Caffè Florian auf dem Markusplatz, nur wenige hundert Meter von meinem Hotel entfernt. Dort erhielt ich auch Tipps und Hinweise, wo ich hingehen sollte und was sich mehr noch anzusehen hätte. Am Sonntagmorgen ging ich in den Dom San Marco. Danach eilte ich über den Markusplatz in Richtung einer kleinen, reformierten Kirche, um dort am Gottesdienst teilzunehmen. Auch diesen Hinweis hatte ich von dem Oberkellner erhalten. Als ich über den Platz flitzte, stand er draußen vor dem Caffè und rief laut: „Avanti Anna! Avanti!“
Als ich zurückkam, setzte ich mich an den gewohnten und mir lieb gewonnenen Tisch. Der Kellner brachte mir wie jeden Tag eine Ombra Wein, einen Espresso und eine deutsche, nicht-illustrierte Tageszeitung oder wie an diesem Tag, an dem er mich verbal über den Platz ›gejagt‹ hatte, die entsprechende Sonntagsausgabe. Neben das Glas stellte er mir immer ein flaches Schälchen. Darin lagen zwei kleine Scheiben geröstetes Weißbrot mit unterschiedlichen Belägen oder Pasten. Natürlich hatte ich es bezahlt – aber nicht bestellt. Ich wusste nicht, dass ich in typische Gewohnheiten der venezianischen Lebensart eingetaucht war, ohne es selbst gewählt oder gar entschieden zu haben. Die Ombra – italienisch für ›Schatten‹ – bezieht sich auf venezianische Weinhändler, die früher in eben jenem Schatten des Campanile, des Glockenturms von San Marco ihren Wein verkauften und ihre Fässer in den Schatten rollten. Der Name, für das die Art des Getränkes zu genau der Zeit stammt von dem Ort, an dem ich saß. Mit dem Schatten wanderten die Händler mit ihren Ständen, um den Wein nicht in der prallen Sonne zu erhitzen. Das war vor meiner Zeit. Ich blieb sitzen.
Die Cicchetti als belegte Schnittchen zu bezeichnen träfe es nicht, obwohl sie es streng genommen sind. Nichts gegen eine urdeutsche Gemütlichkeit wie beim Länderspiel im deutschen Wohnzimmer mit Flaschenbier und einem Stapel Leberwurstschnittchen. Während meine Männer fieberten und feierten, ›jubelte‹ ich … ihnen dabei immer auch etwas Obst unter. ›Wenn man es mundgerecht schnippelt und sie es nicht halten, sondern nur einschmeißen müssen, merken sie es nicht einmal.‹ Das war meine Erkenntnis aus jahrelangen Feldversuchen. Man kann es noch so raffiniert angehen – im Umgang mit zumindest Ehemännern und Söhnen habe ich eine Regel – je simpler der Trick, desto eher führt es zum Ziel. Anders ist es bei kleineren häuslichen Aufgaben für sie. Die sind als Heldenreise verpackt am interessantesten. – Da erledige ich es wenn möglich gleich selbst. Ein Stapel Nahrung auf dem Tisch ist in Ordnung, aber deswegen war ich nicht in Venedig. Der winzige Schluck Wein, das geröstete Brot, die frischen Tomaten, dazu der Espresso auf einem der schönsten Plätze der Welt sitzend, gab mir ein anderes Lebensgefühl. Die Nummer mit der deutschen Tageszeitung war genauso wenig meine Idee. Vielleicht hielt mich der Oberkellner für interessiert am Weltgeschehen oder es gehörte auch für die Venezianer dazu, zu der Zeit eine Zeitung in ihrer Muttersprache zu lesen.
Meinungen
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