Plötzlich wieder Mutter
Mailand
Am nächsten Tag dieser Alleinfahrt mit meinem Sohn hatten wir einen Termin in Mailand. Junior war Gründer eines Start-up-Unternehmens und suchte Investoren. Er hatte per E-Mail und Telefon zuvor Kontakt zu einem Vertreter einer auch italienischen Investorengruppe. Da wir zuvor sowieso in München waren, hatten wir drei Tage Gardasee mit einem Abstecher nach Mailand drangehängt. Eigentlich wollten die Investorenvertreter sich in Madrid mit Junior treffen. Hätte mein Sohn die Angelegenheit ernster genommen, wäre er auch dorthin gefahren. Der Kompromiss auf Mailand bedeutete, dass mein Sohn neugierig war, aber Vorbehalte hatte. Der Plan war einfach. Wir würden zusammen zu dem Termin gehen, denn wir wussten nicht, wie lange es dauern würde. Der Klassiker: Ich ging irgendwohin, wo ich nichts zu suchen hatte, und sprach mit Menschen, die Interesse an etwas hatten, wovon ich nicht die geringste Ahnung hatte. Es sollte ein erstes Kennenlernen auf privater Ebene sein, weil die Inhalte bereits vom Grundsatz her geklärt waren. Danach gab es keine Planung mehr, ob wir noch in die Innenstadt fahren würden oder nicht. Es stand aber im Raum. Ich hatte Paulchen dabei. Der kleine Mischlingsrüde liebte das Reisen. Neue Eindrücke zu sammeln, war für ihn das Größte. Eigentlich tat er alles gern, solange er nur mit von der Partie war. Allein mit mir, Familie, Freunde – der drahtige, grau-beige verwuselte Cairnterrier-Mix hatte eines der sonnigsten Gemüter, die mir je begegnet sind.
Natürlich hatte ich, die noch nie in Mailand war, aber kunstinteressiert ist, das Heilige Abendmahl von Leonardo da Vinci in Santa Maria delle Grazie in Mailand auf dem Kieker. Wer würde sich das Meisterwerk entgehen lassen? – Ich. Das Reservieren einer Eintrittserlaubnis, um nur kurz hineinzuhuschen, damit das Werk nicht noch mehr über Gebühr zu zerstört wird, war für mich zu anspruchsvoll. Ich habe volles Verständnis und würde selbst nur Restauratoren reinlassen. Dieser Geschäftstermin in Mailand wurde einer der idiotischsten, die wir je hatten. Da stimmten wir überein. Meine Verhandlung in Dubai in Sachen Sankt Petersburg war bescheuert, aber nicht schräg. Wir verhandelten wenigstens über die gleichen Inhalte. Junior hatte viele sonderbare Termine im Gedächtnis. Auch für ihn sollte das kurze Gespräch im Hofgarten des Mailänder Hotels zu den erinnerungswürdigen ›Nullnummern‹ gehören. Der angebliche Investorenvertreter war Mitte dreißig und hatte arabische Wurzeln. Er war elegant in feinem Anzug und Hemd gekleidet und roch dezent gut. Sein Benehmen war außerordentlich höflich und zunächst zurückhaltend. Dass Männer Uhren mit den Ausmaßen und der optischen Wucht von Kofferradios am Handgelenk tragen müssen, verstehe ich nicht. – Das muss ich auch nicht verstehen. Hassan sprach Deutsch. Aufs Freundlichste und Belangloseste kamen wir ins Gespräch – aber wir kamen nicht aus den Puschen. Junior kürzte über die steile Piste ab und erfragte die Geschäftsinteressen seines Gegenübers, bezogen auf das dann gemeinsame Projekt. Hassan sprach über alles andere und sagte dauernd ›Mutti‹ zu mir. Dann drehte er das gesamte Gespräch in seinen Wind und machte absonderliche Vorschläge und Angebote.
„Nein“, sagte mein Sohn. – Und ich war gerade schön im Plauderton mit dem Sohn, den ich nicht kannte – der mit dem einnehmend guten Benehmen.
„Mutti möchte aber, dass wir zusammenarbeiten. Du kannst unsere Mutti nicht enttäuschen", sagte Hassan.
Ich hielt es zuvor für ein Spiel. „Was möchte ich? Ich habe keine Ahnung, wovon ihr sprecht. Autos und Uhren? Ist das überhaupt legal?“
„Nein, Mutter. Das ist es ganz und gar nicht, wenn es so ist, wie ich es vermute, und dein neuer Sohn endlich mal Klartext sprechen würde“, sagte Junior und warf einen verächtlichen Blick zu dem Bruder, mit dem er nichts teilen wollte.
Hassan beteuerte, dass alles super sei – als spräche er über die Wellenhöhe beim Surfen. Er forderte mich auf, meinen ›nicht wagemutigen‹, anderen, also den echten Sohn zu überzeugen, mit ihm Geschäfte zu machen. Das Projekt meines realen Sohnes bezog sich auf die Produktion von Nahrungsmitteln während der Fremde, der mich als ›Mutti‹ bezeichnete, Luxusgüter durch Europa schmuggeln wollte. Wir waren beide etwas irritiert, wie der große, schlanke Hassan argumentativ die Kurve nie kriegte und nie zum Thema sprach. Mein Sohn fragte noch einmal nach, ob er ihn auch richtig verstanden hätte, und wiederholte Hassans Vorschlag. Hassan bestätigte und mein Sohn lehnte nicht dankend ab. „Nein.“
Dann drehte Hassan auf und bearbeitete mich, seine ›Mutti‹, argumentativ. Jetzt wurde er auffallend ausfallend. Wir tranken unseren Cappuccino aus und verließen den Hotelgarten.
Junior blickte auf die Uhr und sagte: „Hey, es ist noch richtig früh. Klasse. Was willst machen? Wie ich den Laden kenne, wirst du in den Dom gehen.“
„Warum musstest du mich zu so was mitschleppen?“
„Was willst du? Sei doch froh. Du hast einen neuen Sohn – Hassan. Der kann wenigstens kultiviert spielen.“
Im dichten Verkehr fuhren wir in den engsten Stadtkern. Wir fanden nicht gleich ein Parkhaus. Mein Sohn wäre in aller Ruhe etwas weitergefahren, bis auch das letzte Caffè geschlossen hätte. Ich wollte in den Dom – keine Frage.
„Halt an, ich steig aus und frage ein Taxi. Da vorne steht eins.“ Auf den Widerstand vom Fahrersitz habe ich nicht mehr geachtet. Mir war schon klar, dass zumindest damals nicht direkt mit fremden Fahrzeugen kommuniziert wurde. Es galt, so schnell wie möglich widerstandslos aus dem Wagen zu kommen, um das Richtige zu tun.
Ich ging zu dem Taxifahrer und fragte, ob er mich zum nächsten Parkhaus bringen könnte. Der Fahrer lächelte, bestätigte, und ich stieg auf dem Beifahrersitz ein und schnallte mich an. Die rasende Fahrt durch das geschäftige, verkehrsüberlastete Mailand konnte beginnen – und endete, bevor ich mich darauf eingelassen hatte. Er fuhr unmerkliche hundert Meter und blieb stehen. Und zwar genau vor der Einfahrt zu einer Tiefgarage. Eine Bezahlung lehnte er ab.
Weil ich schon mal dort war, ging ich in den Mailänder Dom. Mein Sohn und mein Hund saßen derweil in der Galleria Vittorio Emanuele Secondo bei einem Kaltgetränk und Snacks wie Würstchen im Schlafrock und Variationen von ›Schinken‹. Das war Paulchens Lieblingswort. Nachvollziehbar. Sein Lieblingsuntergrund: Gras. Sein Lieblingslied: ›Viva Colonia‹. Mein Sohn hatte es ihm vorgesungen, weil er meinte, dass Paulchen mit den von mir oft gespielten Bach-Kantaten nicht wirklich warm wurde. Das war mir vorher nicht bewusst. Erst als ich sah, wie er bei dem Gassenhauer abdrehte, schunkelte – er schunkelte! – und tanzte, wusste ich um seine Leidenschaft. Beides keine Kostverächter, ließen sie sich die Wartezeit in der eleganten Passage gern und gut gefallen. Sie knabberten das gleiche Essen und hatten verschiedene Getränke vor der Nase. Die Kellner und Kellnerinnen versorgten sie gut und hatten ihnen wohl angesehen, dass beide ihre vegane Phase hinter sich, jedenfalls nicht vor sich hatten. Ich kam schneller aus dem Dom als gedacht. Man hatte mich an der langen Schlange vorbeigebeten. Warum? – Ich habe keine Ahnung. Im Eingang der Galerie hielt ich kurz inne. – Natürlich ist das Gebäude prachtvoll und den Vergleich mit anderen, ähnlichen Objekten möchte ich nicht wagen. Ich kam auch nicht auf den Gedanken. Meine beiden Genusswesen lenkten die Sinne auf sich. Gut versorgt und umhegt betrachteten sie die Menschen und Hunde, die durch die Halle an ihnen vorbeiflanierten. Dann sahen sie mich, und Paulchen bellte sich vor Freude in Rage. Es hallte, als wäre die Stadt voller Hunde. „Hey, du bist aber flott. Haben sie die Leute in Schüben in den Dom gelassen?“
„Nein.“ Ich sah ihn nachdenken. ›Mutter, sakrale Kunst, Kirche – Warteschlange. Wie lang war sie weg?‹
„Sie haben mich durchgewunken. Frag bitte nicht warum. Ich weiß es nicht.“
Auf der Rückfahrt nach Bardolino gab es schon in Mailand ein Gewitter der Extraklasse. Im Auto – stromleitender Käfig hin oder her – Ich mag Blitze nicht direkt über mir. Der Himmel wurde schwarz, es regnete, und der Regen ging über in Hagel. Wie Zorn knallten und prasselten die Hagelkörner auf uns nieder. Die Sicht war zum Augenschließen; – fast der gleiche Effekt. – Nicht ganz, denn ich konnte erkennen, dass nicht wenige Fahrzeuge einfach dort stehen geblieben waren, wo sie sich gerade befanden, als die Fahrer sich gegen eine Weiterfahrt entschlossen hatten. Langsam beruhigte sich das Unwetter, aber es blitzte und schüttete weiter, bis wir auf Höhe der Südspitze des Gardasees ankamen. Das Gewitter war nur auf der Westseite. Begleitet wurde die Fahrt von Italo-Pop im Radio. Beginnend mit dem Blindflug meines Sohnes durch Mailand mit kaum Sicht, wegen der Hagelwand vor schwarzem Himmel, ging mir die gute Laune der Musik gehörig auf den Keks.
♥
Mit Katja und Junior verlief der Abend in Bardolino völlig entspannt und hagelfrei. Er zeigte ihr den Ort, den er so gut kennt wie früher das Nachbardorf zu Hause. Vertraut, man kann einige Gesichter zuordnen und vermeidet, sich an den Wirt zu klammern, der einen wirklich noch erkennt. Ich beobachtete Katja, wie sie alle Eindrücke in sich aufsog. Mehr als Konsument, denn als Teilnehmer. Junior kann man überall hinschmeißen, er ist immer gleich und kommt zurecht. Distanz kennt er so wenig wie gepflegte Rücksichtnahme. Bei seiner zukünftigen Frau verhielt er sich als Kavalier.
›Die Fahrt muss ihm in den Knochen stecken‹, dachte ich. Aber er wirkte frisch und ausgelassen, parlierte und hörte zu. Wir besprachen die weitere Reiseroute. Venedig war mein Wunsch und Katja schloss sich mir an. Ich kenne keine Umfrageergebnisse, ob Venedig mehr ein Frauen-, als ein Männerreiseziel ist, aber ich habe eine Ahnung. Wir beiden – eine fast eingeheiratet – Mayer-Frauen hatten mit Mayer Junior leichtes Spiel, was die Ziele anbelangte. Ihm war es komplett egal. Er würde fahren, wohin wir auch wollten.
Meinungen
Ich war nur kurz in Mailand. Was habe ich verpasst?
Sonstige Bemerkungen?