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Mit dem Radlader ins Hotel

von Marc Krautwedel

Kapitel 24: Mordsstimmung

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Mordsstimmung

Mordsstimmung

Minsk


›Da kommen sie endlich angetrabt‹, dachte ich. „Gott sei Dank.“ Der silbergraue Wagen sah aus wie aus dem Ei gepellt. Eine Familienkutsche, nicht Kombi, nicht SUV und nicht Van. Vielleicht war es das, was als Minivan bezeichnet wird. Meines Sohnes Schwiegereltern, die es noch nicht waren, stiegen mit ausschweifender Begrüßungsrhetorik aus, lachten und freuten sich des Lebens. Ihr sonniges Gemüt war einnehmend, aber nicht ansteckend. „Ja, ich freue mich auch, euch zu sehen. Wir müssen los, dringend. Alle ins Auto.“

„Nein Aaana, es ist in Ordnung. Wir sind früh. Und Bahnhof seehr nahe, wirklich sehr nahe.“

Ich durfte es nicht überbewerten. Die Bestätigung eines Argumentes durch dessen einfache Wiederholung fing an, mich zu stören. ›Ich bin doch kein lahmer Gaul, auf den eingeredet werden muss. Wenn ihr mich auf die Palme bringen wollt, versucht es weiter mit dem Beruhigungsgequatsche.‹

Wir hätten schon längst am Bahnhof sein sollen, wie es abgesprochen war. Mir bei Gefahr eine Schlaftablette zu verabreichen, geht voll nach hinten los. Ich jage den Puls hoch, bis das einflussnehmende Ding verbrannt und ausgeschwitzt ist. Ich bin der Gaul, der weitergeht, bis sich die Koliken, die von den überreifen Birnen kommen, erledigt haben. „Das kann ja sein, ich wäre nur froh, auf dem Bahnsteig zu stehen.“

„Es kann nichts passieren. Zug kommt iiimmer spät. Viiel zu späät.“

„Ich habe schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen“, habe ich nicht gesagt. Zu Späßchen fehlte mir die Zeit. Mit dem silbergrauen Familienglück ging es zum Bahnhof und ich eilte voraus Richtung Bahnsteig. Durch die Halle, ohne Blick nach links oder rechts, schnurstracks zerrte ich mein Gepäck zu den Gleisen. Der Zug war nicht da. Dann trudelte auch der Rest der „Familie“ ein.

„Siehst du, Schatz, der Zug ist noch nicht da. Er hat Verspätung. Wie immer“, sagte Katja zu Junior, der nur so lange die Ruhe selbst ist, bis ihn meine Unruhe nervt.

Ich unterbrach das traute Glück. „Ist der Zug schon weg?“ „Nein. Da steht, er kommt eine Stunde später.“

Tatsächlich, die Anzeigetafel signalisierte es. Ich erinnere mich nicht mehr, in welcher Schrift, aber die Zahlen waren sicher Arabisch und die konnte ich sogar lesen. Bestimmt stand auch ›Berlin‹ auf der Tafel. Ich kochte und meine Wahrnehmung war eingeschränkt. Ein großes Gelächter der in Vollkommenheit entspannten Anvertrauten setzte auf dem Bahnsteig ein. Sie zeigten mir mit guter Laune, dass allgemeine Befürchtungen und Aufregungen unberechtigt und übertrieben waren. Die hatten keine Ahnung, dass das bei mir überhaupt nichts änderte. Unpünktlichkeit wird nicht besser, nur weil es einige zum Kult erklären. Mir reichte es. Erst die Sorge, es nicht zum Zug zu schaffen, gefolgt von dem Gelächter der anderen. – Und wir saßen immer noch nicht drin. ›Was wäre, wenn er ausfallen würde‹, dachte ich. ›Die Visa laufen heute ab.‹

Die neue Familie um mich herum war in Abschiedslaune, und wir gingen gegen meinen Willen zurück in die Halle. Das war so ziemlich das Bescheuertste, was wir machen konnten. Oben auf der Empore standen wir am Geländer. Die anderen tranken Kaffee aus Bechern und unterhielten sich prächtig. Ich war unter Hochspannung und starrte auf die Anzeigetafel.

Meines Sohnes zukünftige Schwiegermutter startete einen letzten Anlauf der Familienzusammenführung. Sie stürzte auf mich zu, nahm ihr Opfer mit Gewalt in den Arm, lachte und sagte: „Aaanna, du bist viel zu nervös.“

„Fass mich nicht an.“ Meine Stimmung war mordsmäßig. Beinahe hätte es ebenso geendet. Mein vehementes Fortstoßen als ein bloßes Schubsen zu verniedlichen, käme der Realität nicht gerecht. Obwohl – ich hatte den Vorgang schon kurz danach aus meinem Gedächtnis gestrichen und betrachte jeden Hinweis darauf als üble Nachrede.

Leider waren Zeugen anwesend. Angeblich hätte ich die andere zukünftige Schwiegermutter so heftig gestoßen, dass sie in das etwas zu hohe Geländer der Galerie in der Bahnhofshalle rauschte, zurück federte und abdrehte, anstatt erneut zu versuchen, mich zu umarmen. Beinahe wäre sie über das Geländer in die Tiefe gerauscht. Ein bisschen mehr Schwung – und es hätte Folgen gehabt. So soll es sich zugetragen haben. Ich glaube kaum. Und wenn schon? Es reichte nicht. Nicht einmal, um einen echten Eindruck zu hinterlassen. Sie lachte weiter. Was später als soziale Resilienz entdeckt und thematisiert wurde, hatten die längst intus.

Der Zug kam. Wir stiegen ein. ›Uff!‹

Es gibt sicherlich bessere Rollen als die der Herbergsmutter in einem Abteil mit zwei frischverliebten. Aber sie gaben sich Mühe. Wir sprachen über Minsk und Italien, das uns bevorstand. Durch die Hinfahrt war ich ein alter Hase für diesen Zug. Es gab keine Überraschungen oder unüberlegte Handlungen. Der Toilettendeckel blieb unten. Proviant hatten wir in Minsk in einem Supermarkt eingekauft. Da gab es eine gigantische Auswahl an Waren, davon viele luxuriöse Nahrungsmittel, die ich bisher nicht kannte. Es gab aber auch das, wonach wir suchten: unprätentiöse Wegzehrung, weil es im Zug ja nichts gab. Die gesamte Rückfahrt rollte Ereignis los. Was mich überraschte, war die Kontrolle durch die weißrussischen Grenzbeamten. Für mich nicht ungewöhnlich war ihr Eintritt ins Abteil. Sie sahen grimmig, fordernd, angsteinflößend aus. Meine kleine, zarte, zukünftige Schwiegertochter wendete sich ihnen mit dem Engelsgesicht zu – und schnauzte sie kurz angebunden zusammen. Drei bis vier harte weißrussische Sätze von ihr und die Beamten blickten nur alibimäßig auf unsere Pässe, nachdem sie sich wieder erholt hatten. Ansonsten wurde nichts kontrolliert. Mein Sohn und ich sahen uns an. ›Was war das?‹, dachten wir beide. Ich machte mir keine weitergehenden Gedanken über ihren Befehlston gegenüber Beamten. Junior schon – aber er nahm es gelassen.

Es hätte sein können, dass alle Befürchtungen bezüglich ablaufender Visa in unserem Fall völlig unnötig waren.

Die Kleine legte eine Konfliktbereitschaft an den Tag, die mir gern unterstellt wird. Wie sollte ich das vergleichen können? Wir waren fünf Tage der vergangenen Woche in Minsk und befanden uns mit Katja in meinem ›Lieblingszug‹. Nicht, dass ich mich je an das Ding gewöhnen wollte, aber eine Heimfahrt nach einem Raubzug mit der Schwiegertochter als Beute ist anders. Erfüllter. – Wie ein Haken in einer Einkaufsliste, wenn man einen Kuchen backen will. ›Ich backe nicht gerne. Schnell ein Blech Obstkuchen machen, wenn die Früchte reif sind, macht vom Geruch her Spaß. Jedes Mal, wenn Junior im Chemie-Leistungskurs etwas zerbrochen hatte, den Ofen anzuschmeißen – weil es eine Regel gab: ›Kuchen bei Scherben‹ – pulste mein ansonsten hausfrauliches Herz nicht erregter.

Über Katjas Familie hatte ich eigentlich wenig erfahren. Die Frau, die mich am meisten – außer Katja – interessiert hätte, war der angebliche Drache von Oma. Wir hätten uns einander sicher nichts vorgespielt. Wahrscheinlich wäre es sogar egal gewesen, wo auf der Welt wir uns begegnet wären. Wie es in Minsk ablief, war es – vorhersehbar – und doch nicht durchsichtig.


Es gab etliche meiner Reisen mit einer höheren emotionalen Dichte. Da ging in mir und mit anderen viel mehr ab. Herzenswärme, Streit, glaubhafter Gesang von Liebe und Leid, Ärger im Hotel, Irrtümer und Fettnäpfchen. In Minsk mit Familie? Nichts. Allenfalls ein kleines Schubserchen, das völlig übertrieben von den anderen dargestellt wurde.

Meinungen

Wen hättest Du zuletzt eigentlich gern zum Mond geschossen, weil er/*/sie Dir total gegen den Strich gimg? (keine Namensnennungen und keine Beleidigungen bitte)

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