Carol aus Frisco
San Francisco
Es hatte mehr als zwanzig Jahre gedauert, diese Worte aussprechen zu dürfen und es dann auch umzusetzen. Es einfach machen, ohne dass Vater, Verlobter, Mutterschaft oder sonst eine Person oder ein Umstand mich davon abhielten.
Der Flug von Hamburg über Frankfurt Richtung des ersehnten Zieles San Francisco war ein Marathon, auf dem ich jede Sekunde genoss. Der Jumbojet war einer von den Supergroßen, bei denen die Zahl hinter dem Strich in der Typbezeichnung bei mir für zusätzliche Aufregung sorgte. Ich spürte die Kraft der Triebwerke beim Start im Hals. Oberhalb der Wolkendecke fühlte ich mich wie im kontrollierten, freien Himmel über einem Bett voller Kissen. Allein zu wissen, dass ich in die USA flog, ließ Körper und Geist in kurzen, nicht vorhersehbaren Intervallen immer wieder erschauern. An Schlaf war nicht zu denken. Ich, als manifestierter Gegenpol der Vernunft zu einem Adrenalin-Junkie drehte sitzend am Rad.
Meine Eltern hielten mich für verrückt, zumindest bescheuert, dass ich als Kind Kennedy-Fan war und neben den Langspielplatten: ›Lachen mit Kennedy‹, seine bekanntesten Reden sowie einige Bücher über ihn und die Bundesstaaten der USA hatte. Noch als junge, heranwachsende Frau hatte ich den Wunsch auszuwandern. Die Achtundsechziger waren damals im Werden und ich wollte Teil dieser Bewegung sein. Freizügigkeit und freie Liebe waren für mich kein Thema. Wohl aber die ungehinderte, unbestrafte Meinungsäußerung, dass Gegenangehen gegen die verkrustete Struktur einer Elterngeneration, die darauf bedacht war, den guten Schein zu wahren, standen der Freiheit im Weg. Es waren die Zeiten, in denen ›Frau‹ bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr für Entscheidungen wie Ausbildung, Beruf und alles, was gern Teil der Selbstbestimmung sein sollte, von anderen entschieden wurde. Entweder von den Eltern – oder wenn diese einer Hochzeit zugestimmt hatten, vom Ehemann – und sollte er noch so grün hinter den Ohren gewesen sein.
Das heißt nicht, dass wir heranwachsenden Frauen uns keine Freiräume schufen. Als Sechzehnjährige habe ich mich mit meiner besten Freundin freitags abends vom Lande weggestohlen. Es ging nach Hamburg in den Star Club und ins Grünspan. Wir beide waren Freigeister, und Jungs interessierten uns ganz und gar nicht. Männer eher, aber das stand nicht zur Diskussion; jedenfalls damals nicht. Bei mir sollte es sich weiterhin in engsten Grenzen bewegen. Meine Freundin war die Klügste auf unserer Schule. Warum sie später Edelprostituierte wurde und sich von Ihren Kunden zu ihren Treffen in aller Welt einfliegen ließ, habe ich nie begriffen. Ich habe es nie ansatzweise nachvollziehen können und schon gar nicht verurteilt. Die kurze, komplett harmlose, knutschfreie Partyzeit konnte weder Grund noch Anlass für ihren Geschäftsbetrieb sein. Selbst Händchenhalten war in unserem Kosmos ausgeschlossen. Stattdessen feierten wir die neue Musik. Der Star Tony Sheridan wurde begleitet von seinen Beatles. – Wir sahen die Pilzköpfe gern. Die Lords und die Rattles, eine deutsche Band, die englisch sang, fanden wir noch besser. Meine Liebe zu Amerika hatte weniger mit der Sprache zu tun als mit der Weite und der Breite von Entfaltungsmöglichkeiten. Für uns wurde das bei den Besuchen auf den Konzerten besagter Bands bestätigt. Damals spielte es keine Rolle, ob sie aus Liverpool, Memphis oder Hamburg kamen. Die Sprache und der Rhythmus waren Garanten für unsere Hoffnung auf Befreiung.
Bereits als Vierzehnjährige hatte ich die Brieffreundschaft zu einem gleichaltrigen Mädchen – Carol – in San Francisco begonnen. Es gab keine anderen Interessentinnen für diesen Volltreffer der Kontaktmöglichkeit in der Schule. Wir hatten uns in Rage geschrieben und für mich bestand kein Zweifel, sie bald zu besuchen – um dortzubleiben. Den Drang kann ich heute so leicht beschreiben, wie ich es zu der Zeit empfand. Er ist nie verklungen. Mit Sicherheit war ich mit der Sehnsucht nicht allein. Es werden viele junge Menschen gefeiert und getanzt haben, ohne dass die Eltern wussten, wie nahe ihre Sprösslinge tatsächlich daran waren, den Absprung zu wagen. Oder sie fürchteten es doch, weil es – gerade die neue Musik betreffend – schon Spannungen zwischen den Generationen gab, bevor die Sechzigerjahre den Weg für die Achtundsechziger Generation freiräumten. Meine Jugend machte mich untröstlich. Das ist nicht dahingesagt. Meine vornehmste Eigenschaft, die mich früh geprägt hatte, half etwas. Ich kann warten. „Wenn ich volljährig bin, mit einundzwanzig, kann ich machen, was ICH will. Endlich frei.“
Die Perspektiven für die Zeit der Überbrückung waren nicht berauschend. Mich um das Haus meiner Eltern zu kümmern und aufzupassen, dass die tüdelige Oma sich nicht verletzt, waren keine dankbar ausgefüllten Beschäftigungen. Eine begierig angestrebte Alternative wäre das Architekturstudium an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg gewesen. Während eines Praktikums hatte mein damaliger Chef, ein Architekturprofessor, mich dazu ermuntert. Er präsentierte mir eine erfolgreich beschiedene Empfehlung. ›Wow, das ist unfassbar.‹ War es auch. Ich war noch nicht einundzwanzig und durfte nicht selbst entscheiden. Vater entschied dagegen. Über separate Kanäle wurde mir mit achtzehn eine Au-pair-Stelle in der San Francisco Bay angeboten. Dummerweise hatte ich zuvor meinen Freund und späteren Ehemann kennengelernt. Ich versicherte ihm, bestimmt zurückzukommen. Er glaubte mir nicht und hätte damit so was von recht behalten. Nicht im Leben wäre ich zurückgekommen. Der Traum, in die USA auswandern zu können, blieb mir bis zur Schwangerschaft und weit darüber hinaus erhalten. Ich hatte mich nicht getrennt, als es noch möglich war. Wie viele Frauen teilen das Schicksal? Zu dumm, dass ich ihn liebte. – ›Wie Frau es macht, es läuft anders.‹ Werbungen verschiedener Männer hatte ich widerstanden. Bei der freundlichen Ansprache eines wegen seiner mitgeführten Habschaften vermutlich Obdachlosen: „Ich will dich f***!“, entgegnete ich mit einem jungfräulichen: „Geht nicht, ich bin verlobt.“
„Amerika, ich komme! Ich komme wirklich“, sagte zwanzig Jahre später die Mutter eines fast erwachsenen Sohnes auf dem Flug gebetsmühlenartig vor sich her, um es selbst zu hören und zu begreifen. Die Zeit vertrieb ich mir mit – Vorfreude. Unter mir die Wolkendecke, an einigen Stellen aufgerissen, den Ozean preisgebend und auf den Ohren der Kopfhörer eines Walkmans. Ein cooles Ding, und die Playlist war in festgelegter Reihenfolge auf einer Tonbandkassette aufgezeichnet. Damals war das Vorspulen noch wortwörtlich zu verstehen und ging mit pfeifenden bis kreischenden Nebengeräuschen über den kabelgebundenen Kopfhörer einher. Mein Sohn hatte mir eine Kassette mit neunzig Minuten Musik aufgenommen. ›American Dream‹. Die Lieder der Hippies und Freigeister hatten seit ihrer Erstaufnahme bereits mehr als zwanzig Jahre auf dem Buckel. ›California dreamin‘‹, ›Let’s go to San Francisco‹ sangen mir aus der Seele.
Auf dem Airport wartete schon meine Freundin Carol. Endlich vereint. Wir kannten uns ewig und wussten alles voneinander, weil wir es lückenlos beschrieben hatten. Zwei Kreise öffneten sich in diesem Moment und verschmolzen zum Symbol des Unendlichen, der liegenden Acht. Ich bin mir sicher, dass wir beide es gefühlt hatten – vielleicht aber verschieden interpretierten. Genau dafür ist es ja so wichtig, sich zu treffen, um sich von Angesicht zu Angesicht auszutauschen. Es gibt unzählbar viele Nuancen der anderen Person, die wir aus der Distanz und nur auf Papier gar nicht ergründen konnten. Jetzt bekamen wir die Gelegenheit dazu. Wir fuhren zu ihr nach Hause. Sie wohnte in Alamo, einer neubenannten Gemeinde mehrerer Siedlungen in der San Francisco Bay. Das Gebäude war wie alle in der sauberen Gegend von ortsüblicher Bauart und machte einen äußerst gepflegten Eindruck. Die Hecken waren in Schuss, der Pool war hinterm Haus, kein Unkraut in den Fugen der gepflasterten Vorfläche, auf der auch der blaue Bajuware parkte. Draußen wie drinnen alles geleckt. Das hereinfallende Licht schimmerte friedvoll auf den dunkel gebeizten und geölten Holzbohlen des Fußbodens. Ich machte mich frisch und wir unterhielten uns bis tief in die Nacht und mir die Augen zufielen. Es war wie nach zwanzig Jahren einer in Teilen beschwerlichen Reise endlich angekommen zu sein.
Am nächsten Morgen ging es mit ihrem Auto zu einem meiner Sehnsuchtsorte: Sausalito. Ein zauberhaftes kleines Örtchen, wenn nur die Touristen nicht wären, die wie ich die Golden Gate Bridge und die Hausboote der ehemaligen Freigeister betrachteten. Einige von ihnen hatten sicher noch den alten Spirit.
„Sieh mal dort!“, sagte Carol. „Das ist das berühmte Alcatraz. Du kennst es bestimmt aus Kinofilmen.“ Sie zeigte auf den Gefängnisfelsen und mir schauderte angesichts des Sinnbildes von Ausweglosigkeit.
Meine Freundin arbeitete bei einer amerikanischen Fluggesellschaft. Am Abend gingen wir in San Francisco auf eine Party ihrer Freunde, allesamt Mitarbeiter dieser Airline. Bodenpersonal, Flugbegleiter und Flugkapitäne. Die Wohnung war groß und geräumig. Etwa zwanzig Personen waren da. Hinzu kamen zwei Kinder und ein Säugling. Carol brauchte mich nicht vorzustellen. Alle wussten Bescheid und nahmen mich mit freundlich-freudigem Überschwang in Empfang. Es wäre nicht sachlich falsch, aber unnötig, mehr noch unklug, das dort Erlebte detailgetreu zu beschreiben. Es wird immer wieder Zeiten geben, wo Verhalten, Erkrankungen und Meinungen zu Pauschalverurteilungen führen. Was ich sah, war genug Futter für eine Armada an leichtfertig gefälligen Pauschalurteilen. Intoleranz ließe meine Freiheitsliebe nicht zu. Als Mutter wird frau jedoch berechtigt sein, eine einfache Frage nach der Sinnfälligkeit von Handlungen stellen zu dürfen, wenn es um das Kindswohl geht.
Okay, ich war nahe dem Ausrasten: „Was macht dein Kind zwischen den Drogen? Habt ihr gar kein Verantwortungsbewusstsein?“, fragte ich den Kindsvater.
„Das Kind ist schon krank.“
Meine weiterhin vorgetragenen zweckdienlichen Hinweise führten zu dem, was man heute wohl einen Shitstorm nennt – nur direkt. Sie beschimpften mich zweisilbig einfältig.
„Nazi!“ – „Scheiß Nazi!“ – F*** off, Nazi!“, schnauzten sie hysterisch und drohend in weiteren, ebenso kreativen Varianten. Mit wildem Gefuchtel und Gebärden mit wenig Spielraum für Interpretationen untermauerten sie weiterhin ihre offenkundig ablehnende Haltung. Nichts mehr von der Freude, endlich die so geliebte Freundin ihrer Kollegin kennenzulernen. Mich – die ich extra aus Germany kam,
Carol war außer sich und verstand die Welt nicht mehr. „Was passiert hier?“
„Das sind deine Freunde. Du solltest es wissen“, sagte ich ihr, eigentlich, um mit dem Hinweis fortzufahren, dass der Tanz auf dem Vulkan kein Ausdruck von Freiheit ist. Und auch meine allgemein anerkannte und geteilte Meinung, dass Elternschaft tatsächlich auch etwas mit Verantwortung zu tun haben könnte – wie komme ich nur immer wieder auf so abwegige Thesen – fand kein Gehör.
„Was fällt dir ein, so mit meinen guten Freunden umzuspringen. Die sind cool. Du machst alles kaputt“, schnauzte sie erbost.
›Upps‹, dachte ich mit nur emotional gesehen offenstehendem Mund. Mein Mundwerk hielt ich aus verschiedenen Gründen geschlossen.
Wir verließen schleunigst die Wohnung und gingen – zum Auto; sie zur Fahrerseite.
„Das ist nicht dein Ernst“, sagte ich. „Du bist betrunken und ich habe keinen Führerschein dabei.“
Sie ließ sich nicht davon abbringen, mit dem Wagen nach Hause zu fahren. Ich saß stocksteif, wachsam wie eine Schleiereule neben ihr und starrte auf die Fahrbahn, die Hand locker, zugriffsbereit Richtung Lenkrad weisend. Carol verließen zunehmend die Sinne und die Konzentration. Die letzten Kilometer auf der zum Glück kaum befahrenen, nächtlichen Straße lenkte ich übergriffig. Mit harten Kommandos errang ich punktuell ihre Aufmerksamkeit, und wir erreichten unser Ziel ohne Schaden – an uns, an anderen und am blauen Bajuwaren, in dem wir saßen.
Die Nacht war ruhig, denn Carol schlief. Ich wälzte mich nicht im Schlaf, sondern machte lange kein Auge zu. ›Zwanzig Jahre Brieffreundschaft und Sehnsucht. Habe ich mir ihr Leben nur eingebildet? Hatte sie mir die ganze Zeit etwas vorgegaukelt? Wenn sie selbst daran glaubt, was sie mir geschrieben hatte, lebt sie in zwei Welten und ich habe ein Problem.‹ Ich schwenkte in den Modus: ›Haus aufräumen‹ und ›auf Oma aufpassen‹. Nicht, dass es inhaltlich vergleichbar war – insgesamt doch sehr praxisorientiert, ohne Wölkchen zwischenmenschlich emotionaler Interaktion. ›Zumindest ist sie kleiner und schwächer als ich und meistens besoffen.‹ Mit dem Kraftüberschuss schlief ich ein.
Früh am nächsten Morgen ging ich aus dem hölzernen, weißen Haus, um im nahen gelegenen Einkaufszentrum, einer Mall, Kaffee zu besorgen. Carole hatte keine Kaffeemaschine daheim. Ich marschierte in Gedanken allein neben der Straße, bis ein Polizeiwagen anhielt:
„Lady, was machen Sie hier?“, rief der sonnenbebrillte Beifahrer aus dem geöffneten Fenster.
„Ich besorge mir einen Kaffee in der Mall, Officer.“
„Zu Fuß?“
›Upps!‹ dachte ich. ›Coffee to go heißt nicht: Go for a Coffee‹, und ich begriff ein wenig, was es heißen mag, wenn die Felder nicht in zehn Gehminuten vom Dorf aus erreichbar sind. „Ich komme aus Germany“, erläuterte ich geistesgegenwärtig, ahnend, dass in den USA bei Besorgungen nur der Weg zum Parkplatz und zwischen den Regalen per Pedes zurückgelegt wird. Auch hoffte ich auf den Sonderbar-Bonus als Ausländerin. So war es.
„Dann guten Weg. Es ist nicht üblich, hier spazieren zu gehen, Lady“, sagte er, grüßte leicht mit den aus dem Fenster ragenden Arm und ließ ihn draußen locker hängen, als sein Kollege auf Gas trat und sie wegfuhren.
›Jeder kennt Malls‹, dachte ich mit meiner durch Reportagen genährten Fernseherfahrung beim Blick auf das Einkaufszentrum. Der Parkplatz allein wäre ein Grund gewesen, E-Scooter zu erfinden. Besser noch: die gefühlt hausgroßen Einkaufswagen mit Aufsitzrasenmähern kombinieren. Die Mall war kleiner als diejenigen mit riesigen Freizeitparks im Herzen des Shoppinguniversums. Der Eindruck ist live völlig anders. Die dritte Dimension haut es gewaltig raus: Gänge, die meine Maßstäbe sprengten. ›Wer es gewöhnt ist, könnte beim Gang durch die enge Fußgängerzone Via Mazzini in Verona Platzangst oder das Gefühl von akuter Einsturzgefahr verspüren‹, dachte ich.
Mit zwei Pappbechern voll Heißgetränk bewaffnet, ging ich zurück zum Haus meiner Freundin mit dem kleinen Haschmich. Wie auf dem Hinweg traf ich unterwegs keinen Fußgänger. Auf den Straßen war es anders. Autokolonnen schoben im geordneten Fluss aus der Schlafstätte. Carol war gerade wach geworden. Und so sah sie auch aus: ›Ein wenig verlebt‹, träfe es komplett höflich. Das Haar war stark ungeordnet und sie hatte eine Aussprache, die eine Mischung war aus einem breiten, eher Südstaatenamerikanisch, morgendlicher Nachlässigkeit und der nur langsam verstoffwechselten Wirkung des abendlichen Besäufnisses. Sie war immer noch ungehalten über meine ihrer Meinung nach zu engstirnige und begrenzte Haltung gegenüber ihrem durchentspannten, coolen Freundeskreis. Carol zog die bereitliegende, weil schon gespielte Nazikarte nicht erneut ins Rampenlicht. Sie schmollte.
„All die Jahre habe ich gut von dir gesprochen. „Meine Freundin in Deutschland, mit der ich alles teile.“ Sie dachten, du liebst die Staaten, bist locker, mit dir könnte man reden und feiern. Und dann kommst du und respektiert sie nicht. Wie stehe ich jetzt vor ihnen da? Du hast eine Grenze überschritten.“
›Wie solltest du schon dastehen?‹, dachte ich. Wie eine von ihnen. Du siehst gerade genauso aus.‹
Mit letzten Bemühungen rauften wir uns zusammen und versuchten beide einen gemäßigteren, emotional weniger aufgeladenen Neustart. Als sie dann endlich komplett bekleidet aus dem Bad kam, präsentierte sie mir eine unerwartet „grandiose“ Idee, die sie vorbereitet hatte: „Heute fahren wir nach Alcatraz. Ist das nicht toll? Was sagst du?“
›Ach du Scheiße‹, sauste es mir durch den Kopf. In Hochdeutsch. Bei mir ungewöhnlich – nicht die Muttersprache an sich. Es kann sein, dass die Kommunikation der Partygänger am Vorabend mit zahlreichen ein- und zweisilbigen Ausrufen ihre sinnlichen Spuren bei mir hinterlassen hatte.
Aber es ist doch wahr: Da fliegt man aus dem Good-Old-Europe in die Neue Welt, um die Luft an einem der Haupt-Hotspots von Liebe und Freiheit zu atmen. Stattdessen wird man genötigt, den klammen Schauder von Verbrechen, Tod, Leid und Einsamkeit mit sich zurück nach Hause zu tragen. Elektrischer Stuhl statt Blume im Haar. Ich konnte nicht anders: „Hast du sie noch alle? Was soll ich in einem Gefängnis? Da haben Menschen gelitten.“
„Das ist ein Museum“, antwortete sie. „Das gehört hier dazu.“
„Nicht zu mir. Auf gar keinen Fall. Absolut nein. Da bleibe ich lieber hier.“
Damit hatte ich sie unbedarft doppelt getroffen. Eigentlich dreifach. Ich lehnte ein touristisches Aushängeschild ihrer Heimatregion ab, das sie extra als Programmpunkt ausgewählt hatte. Ich stellte somit infrage, dass sie mich kennen würde – und eins obendrauf: Ihre Bude, ihr Zuhause, wertete ich als die nur etwas weniger üble Möglichkeit, den Nachmittag zu verbringen. Carol maulte – unterbrochen nur von Schimpftiraden. „Meine beste Freundin? Du hast mir all die Jahre was vorgemacht. Du kommst hierher in mein Haus und beleidigst mich, nachdem du es gestern mit meinen Freunden getan hast. Das werde ich dir niemals verzeihen.“
Bei kleineren und größeren Trinkpausen spielte sie immer wieder dieselbe Leier ab. Mit beschwichtigender Stimme versuchte ich die Wogen zu glätten. Es hätte ein Erdbeben kommen müssen, damit sie endlich das Thema wechselte. Plötzlich klapperte der leere Aschenbecher auf dem Glastisch. Der Schnurvorhang im Küchendurchgang begann zu zucken und der Fußboden zitterte, bevor mehrere Erschütterungsschläge kamen.
„Los, geh in einen Türrahmen, da bist du sicher!“, rief Carol hastig, um die Spannung zu erhöhen, in einer Gegend, in der kleinere Erdbeben fast an der Tagesordnung sind.
›Ob das so viel bringt‹, dachte ich. ›Was soll denn auf mich runterfallen? Tapete? Pappe? Die ganze Bude ist aus Holz. Auf kein Bauteil ist hier so schwer, dass es mich erschlagen könnte.‹ Nach entspannter Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass tatsächlich der Türrahmen im Haus – warum gingen wir nicht einfach raus – der sicherste Platz war, sollte die gesamte Wand umklappen. Man hätte im einzigen Loch gestanden. Kaum war ich am Ziel, ebbte das Erdbeben ab und hörte auf, merklich zu sein. Es gab weitere Stößchen an dem Tag, die mich nicht mehr interessierten.
Am Nachmittag fuhren wir dann ins Napa Valley und nahmen an einer Weinverköstigung teil. Der Winzer und ich verstanden uns blendend. Nicht, dass ich ein Weinkenner wäre, aber ich teilte sein Gefühl für Begeisterung zu seinem Beruf. Es ist schön zu erleben, wenn jemand so mit dem Herz bei seiner Sache es. Natürlich war Deutschland ein Thema: Mosel Rheingau, was auch immer, er kannte sie alle – besser als ich. Er erzählte begeistert und begeisternd. Carol hatte das Alcatraz-Gesicht: inhaftiert, lebenslang, wenn die Flucht nicht gelingen würde. Sie gelang nicht, weil niemand Notiz von ihr nahm. Für alles, was sie veranstaltete, brauchte sie Zuschauer.
Abends kamen wir wieder bei ihr zu Hause in Alamo an, und ich erlebte dort eine neue Höllenfahrt. Die Inhalte waren unverändert, aber die Intensität steigerte sich.
„Ich war so gut zu dir und du nutzt mich nur aus. Du willst mir alles wegnehmen“, sagte Carol mit leicht mechanischer Stimme.
›Das reicht!‹ Es wurde mir zu viel. „Ich gehe ins Hotel und reise, wenn möglich, morgen ab. Rufe bitte ein Taxi.“
„Du gehst nirgendwohin, schrie sie, sprang Richtung Tür, drehte den Schlüssel um, zog ihn ab und steckte ihn ein.“
‹Au, Scheiße‹, dachte ich jetzt bereits in der englischen Kurzform. ›Vielleicht beruhigt sie sich wieder. Sie ist sehr impulsiv. Wer weiß, was sie alles durchgemacht hat?‹
In einem ziemlich bipolar verwurzelten Mischmasch aus Worten, Stimmungen und Gebärden schimpfte und triumphierte sie zugleich. Es ging eine Weile mit emotional wechselnder Besetzung auf der Gegenseite – Carol – weiter, und nichts konnte sie stoppen – außer ihrer Blase.
Nachdem sie das Wohnzimmer verlassen hatte, suchte ich nach einer Fluchttür oder einem hochschiebbaren, unverschlossenen Fenster. Denkste; rundum abgeschlossen. Schließlich sollte es auch eine gefährliche Gegend sein, wie mir der Polizist am Morgen freundlicherweise darlegte. Ich suchte weiter und kam zu einer Ecke im Haus, die etwas durch einen Vorhang verdeckt war.
›Um Himmels willen. Was geht denn hier ab? Ist das ein schlechter Film?‹ Es war keine cineastische Umsetzung eines Psychothrillers, sondern eine idiotische Form von etwas, was ich nicht verstand, aber jedenfalls auch nicht besser zu verstehen suchte. In der Ecke klebten fein säuberlich alle Fotos von mir, die ich ihr in den Jahren geschickt hatte an der Wand. Nichts sonst. Nur ich. Ein komisches Gefühl, wenn man in Rage ist und in die Wallungen ein eiskalter Schauer von der Seite hereinschießt. Angst war es nicht. Eher Wut, Ekel und allgemeine Erschütterung. Sicherlich ein Volltreffer für jemanden, der oder die sich mit Dachschäden professionell beschäftigt. Bei aller Liebe für die Spielarten menschlichen Seins, hier lag eine echte Störung vor. – Eine Person veranstaltete den Zirkus, mit der ich ab sofort nichts mehr zu tun haben wollte. Ich hörte ihre Schritte und änderte den Plan und begann mit den Vorbereitungen – dem Warm-up. Als sie zurück war, wechselte ich Stimmung, Tonlage und Ausdruck.
„Du bist doch meine beste Freundin und es tut mir so leid. Ich mag deine Freunde, habe aber Angst in neuen Umgebungen und vor noch fremden Menschen. Ich werde mich bei allen entschuldigen. Ich habe total Respekt vor eurer Freundschaft. Ich bin einfach noch etwas überwältigt, hier zu sein und endlich bei dir. Ganz ehrlich: Ich war auch eifersüchtig, dich mit ihnen teilen zu müssen.“ ›Ich bin begeistert von mir. Oh, sie schweigt. Jetzt denkt sie. Langsam. – Zu langsam!‹ „Komm, wir trinken auf unsere Freundschaft!“
Unerwartet zögerlich sagte sie zu und holte ein Getränk, hochprozentiger als Wein und Gläser, wie Wassergläser nur etwa dreiviertel so hoch und mit recht großem Durchmesser. Ich kann nicht sagen, was wir da getrunken haben. Nicht einmal der Geruch blieb mir in Erinnerung. Es bernsteinfarben zu nennen wäre nachträglich geschwafelte Protzerei. Ich arbeitete hoch konzentriert – und vollkommen nüchtern. Immer wieder erhoben wir die Kelche wie in einer Tafelrunde, um sie einem gemeinsamen Schwur gemäß zu leeren, nachdem wir „Freundschaft“ riefen.
Sie trank – und ich kippte. Der gesamte Inhalt meines Glases landete nach jedem frischen „Friendship" unentdeckt in dem Blumentopf hinter dem Sofa. Ich füllte Carol ab und ihren Ficus gleich mit. Das technische Verfahren des elegant-fiesen Außer-Gefecht-Setzens hatte ich irgendwann einmal im Fernsehen gesehen. Wo, in welchem Kontext erinnerte ich mich schon damals nicht, aber hielt es für eine gute Idee. War es auch. Sie schlief besoffen ein, wachte wieder auf, zischte noch einen Drink und torkelte in ihr Schlafzimmer. Der Ficus benjamina musste einiges an Sprit einstecken. Ich nahm meine Tasche, ging zum Telefon und holte ein Notizbuch raus. Zuerst rief ich am Airport an und erfragte die nächstmöglichen Flugverbindungen San Francisco/Frankfurt. Man konnte mir nicht weiterhelfen. Alle Flüge waren belegt. Also erfolgte der Anruf bei meinem Mann in Hamburg, damit er mir einen Flug besorgte. „Geht es dir gut?“
„Ja, ich will hier nur sofort raus und brauche den nächsten Flug.“
„Gibt es Ärger?“
„Nur, wenn ich in zwei Stunden noch in diesem Haus bin. Dann erschlag ich Carol.“
„.Ich rufe gleich zurück.“
„Nein, ich melde mich in einer halben Stunde. Bis gleich“, beendete ich das Gespräch. Es gab meinerseits – trotz echter Bedenken – eigentlich keinen Zweifel daran, dass es ihm gelingen würde. Nach einer halben Stunde rief ich ihn noch einmal an und er hatte bereits einen Platz in einem Flieger für den gleichen Tag gebucht. Mit einem letzten Anruf bestellte ich den Shuttleservice zum Flughafen.
„Welche Adresse? Wo sollen wir sie abholen?“
Ich nannte die Anschrift und fügte hinzu: „... aber nicht klingeln. Ich stehe vor dem Haus oder in direkter Nähe – an der Straße.“
„Unser Shuttle kommt in etwa einer halben Stunde bei Ihnen vorbei.“
„Danke Ihnen vielmals.“ – ›So.‹ – Ab der Haustür war alles geregelt. Mein Koffer stand bereit. Ein letztes Problem, um das ich mir nicht wirklich Gedanken machte, gab es: die Haustür selbst. Ich brach sie mit einem Küchenmesser auf, indem ich im Spalt zwischen Türblatt und Rahmen hebelte, bis ich mehr Spiel für größere Wucht bekam. Das Holz splitterte und der Schlosskasten riss aus der Zarge raus, als wäre diese aus Balsaholz oder brüchigem Pappmasché. Wenn die Polizei das Ergebnis später aus dem Wagen gesehen hatte, musste es für sie wie ein klassischer Einbruch aussehen. Es war mein Ausbruch. Tief entspannt stolzierte ich zur regelmäßig befahrenen Straße und wartete. Als das Shuttle kam, ging der Albtraum weiter: eine furchtbar alte und ungepflegte Rostlaube von Minivan. Selbst der Fahrer war mir unheimlich; bestens gelaunt und sprach nur gebrochen Englisch. Er lud den Koffer ein, quasselte irgendetwas. Ich setzte mich direkt hinter den Fahrersitz. Die Tasche hielt ich an einem der Tragriemen beidseitig vor mir auf dem Schoß. Im Bedarfsfall wollte ich den Riemen über Kopfstütze und Kopf schlagen, um den Fahrer am Hals zu erwischen und mindestens bis zur Ohnmacht zu stimulieren. Mit seinem Gequatsche konnte er mich nicht ablenken. Ich beobachtete alles. Und so fiel es mir auf, dass er in eine völlig falsche Himmelsrichtung fuhr. Das konnte kein Irrtum sein. Das war Vorsatz.
Es ging in die Berge und wurde mit jedem Kilometer einsamer. Dann hielt er an einem kleinen alten Haus, umgeben von Bäumen. Was sollte ich machen, bevor er aussteigen würde und meine Tür öffnen, um mich niederzumetzeln? Die Angst, die ich zuvor hatte, wurde zu Panik. Dagegen waren Carols Ausraster der reinste Kindergeburtstag. Er machte tatsächlich Anstalten auszusteigen. ›Zu spät, sein Hals ist schon außer Reichweite meiner Tragriemen. Er steigt aus.‹ Anstelle eines Showdowns in den kalifornischen Hügeln ging eine Oma auf den Wagen zu. Sie zog einen schweren Reisekoffer. Der Fahrer half ihr und verstaute das Gepäck. Die Oma setzte sich neben mich. Es war eben ein Shuttledienst. So eine Freundlichkeit wie in diesem verrosteten Fahrdienstwagen habe ich selten erlebt. Er sagte mir zwar, dass sich erschreckend aussehen würde, aber damit hatte er recht. Er fragte mich, wie mein Aufenthalt war und kannte die Antwort. Lachend und voller Zuspruch und Erzählungen von seiner Familie in Mexiko und seiner Frau und den beiden Töchtern, die bei Oakland mit ihm lebten. Er plauderte über das Wetter, die Golden Gate Bridge und den Verkehr am Flughafen. Im Nu waren wir selbst dort angekommen.
„Um des Himmels willen, sie sehen scheiße aus! Was ist Ihnen denn passiert?“, war die freundliche Begrüßung der perfekt frisierten und genauso perfekt geschminkten Mitarbeiterin der deutschen Fluggesellschaft am Check-in.
„Ich bin ausgebrochen. Jetzt darf absolut nichts mehr schief gehen. Ich muss weg.“
„Das war wirklich mal eine Last-Minute Buchung. Was immer es war, es ist vorbei. Gleich sind sie im Flugzeug. Erholen Sie sich und lassen sich verwöhnen.“
In der Wartezone holte ich mir einen großen Plastikbecher Kaffee und plumpste auf einen Sitz. Es war alles verkorkst und irgendwie fühlte ich mich von Carol um die jahrzehntelangen Gefühle und Illusionen, nur sie betreffend, betrogen. In meinem Inneren sah es so aus, wie das Äußere es zum Ausdruck brachte, nur unauffälliger. Von der Seite kamen fremde Blicke und ich ahnte ein Getuschel. ›Okay, ich sehe übel aus. Aber ist das ein Ereignis?‹ Als ich realisierte, wer tuschelte, war alles klar. Es lagen Wirklichkeiten zwischen mir und der Gruppe von Topmodels, die im Schlabberlook gekleidet, top gepflegt und nicht einmal zurechtgemacht waren. Wie lässige Rennpferde auf ihren Beinchen im Stand stolzierten sie, als würden sie für das nächste Rennen entspannt geschmeidig bleiben wollen und sich doch erholen. Jede von ihnen trug eine Plastikwasserflasche in der Hand oder unter dem Ärmchen.
Den Rückflug verbrachte ich nur sporadisch im Schlaf. Immer wieder schreckte ich auf, unfähig zu begreifen, was da passiert war. Die Anspannung ließ nach und eine Traurigkeit setzte ein, die vergleichbar ist mit zumindest meinem Gefühl, wenn sich eine für mich realistische Vision in erkannte Blauäugigkeit und Illusion wandelt. An der Drehscheibe des europäischen Festlandes angekommen, rief der bundesbeamtete Zöllner auf dem Frankfurter Flughafen verdutzt aus: „Wie sehen Sie denn aus? Wo kommen sie bloß her?“
Er sagte dies in der Art, als hätte er auf mich gewartet und ich mich verspätet.
„Es war wirklich schlimm“, erwiderte ich.
Und das war es. Ich war gefangen. – In dem Holzhaus allerdings nur eingesperrt. Gefangen war ich so viele Jahre in der Hoffnung auf eine Realität, die meiner Vorstellungswelt entsprang. Selbst ein Kaninchen, das aus dem Hut gezaubert wird, hat vorher irgendwo gegessen, geschlafen und geködelt. Wenn ich nicht dabei bin, sind alles nur Momentaufnahmen, wie Urlaubsfotos, auf dem die Autobahnbaustelle bitte nicht aufs Landschaftsfoto soll. Es gibt für mich nur eins: Aufstehen, weitermachen und dranbleiben. Der nächste Unsinn wird schon kommen.
Meinungen
Welcher Ort ist für Dich der Ausdruck von Freiheit? Ein Land, eine Stadt? Das Meer? Ein Mensch?
…