Puppentanz
Minsk
♥
Katjas Eltern wollten es sich nicht nehmen lassen, uns selbst mit dem Wagen zum Bahnhof zu bringen. Das war mir von Anfang an ein Splitter im Nagelbett der geordneten Ablauforganisation. Die Gleise waren zum Greifen nahe und ein Taxi wäre die einfachste Lösung gewesen. Das bestellt man an der Rezeption rechtzeitig, der Fahrer kennt den Weg und braucht keinen Stellplatz. Alles läuft wie am Schnürchen. Vom Herzen gesehen, ist es eine nette Geste, von meinen zukünftigen Mit-im-Boot-Sitzenden zum Bahnhof gefahren zu werden.
„Aber es gibt nur diesen einen Zug und unser Abreisetag liegt visumsgebunden indiskutabel fest. Wenn wir den Zug nicht bekommen, halten wir uns illegal in Weißrussland auf.“ Ich wollte das nicht dramatisieren. – Ich musste es.
Wir standen in der Hotellobby und warteten. Dann kam auch noch Sascha rein, umarmte mich und überreichte mir als Abschiedsgeschenk zwei Puppen. Sie sahen beeindruckend aus. – Ganz sicher für jemanden, der unterarmlange Kunststofffiguren mag. Die in landestypischer Tracht gekleideten und in Showkartons verpackten Figuren lächelten nichtssagend mild durch ihre Sichtfenster.
„Danke, lieber Sascha, wie zauberhaft.“ Es war wirklich freundlich. Meine Gedanken konnte ich verheimlichen, aber nicht verhindern. ›Ach, du meine Güte. Wo soll ich damit hin? – Keller!‹ Sie würden mit Sicherheit keinen Wertverlust erleiden, weil sie niemals Gelegenheit bekämen, aus ihrer Originalverpackung rauszukommen. Seine weißrussische Seele sprach wieder Bände. Ich verstand es, liebte die Geste, denn ich kann zurecht von mir behaupten, alle namhaften russischen Dichter gelesen zu haben. Und ich bin ganz sicher nicht ausschließlich pragmatisch orientiert. Aber bei einem Gegenbesuch hätte ich ihm bestimmt nicht für die Rückreise im Stinkezug eine Kuckucksuhr mit vollem Geläut in die Hand gedrückt.
Als er weg war, legte Katja los und führte mich in die Trachtenkunde ihrer Heimat ein. Sie erklärte die Bedeutung der Puppen in ihrem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang, und – mir kochte das Blut. Die Zugabfahrt rückte naher und ihre nachlässigen Eltern waren nicht da. ›Sie hätten uns schon vor einer halben Stunde abholen sollen.‹ „Katja, ruf deine Eltern bitte noch mal an und frage, wo sie sind.“
„Keine Sorge Aaanna. Sie kommen ganz siiiicher.“
›Sicher ist nur, dass die Nummer mit den lang gezogenen Vokalen System hat.‹ „Sie wollten doch schon lange da sein. Sie wissen, dass wir unbedingt den Zug kriegen müssen.“
Mein Sohn schritt helfend ein. „Schatz, abgelaufene Visa wären mir egal. Stress in der Familie ist es nicht. Wenn sie in fünf Minuten nicht hier sind, nehmen wir ein Taxi. Alle einverstanden?“
„Schaaatz. Zug kommt immer zu spät. – Iiimmer.“
Es ist eigenartig. Diese Aufregung, Entrüstung bis zu Panikattacken habe ich nur, wenn ich in Begleitung reise. Alleinreisend sind Schrecksekunden, Angst oder Momente der Unruhe auch keine Seltenheit. Aber da kann ich frei handeln. Das Gefühl der kompletten Bewegungsunfähigkeit, weil ich mich auf die beteiligten Menschen einstellen und Rücksicht nehmen muss, gibt meinem Gemüt weißglühenden Charakter. Das versengt die Umgebung als Kollateralschaden. Reisen ohne soziales Gepäck ist härter und direkter.
Als ich in Eile mit einer peniblen Kontrolle auf dem Flughafen von Palma de Mallorca genervt wurde, nahm ich den Mund ein wenig voll: „España olé? Nein. España adé.“ Eine fröhliche Leibesvisitation inklusive sämtlicher Körperöffnungen war die Folge. Ich war damals aus eigenen Stücken zu spät am Airport. Die Verabschiedung von Urlaubsbekanntschaften in der Hotellobby in Palma hatte zu lange gedauert. Ich hätte es verantworten und ertragen können, schlimmstenfalls einige Stunden, vielleicht einen Tag auf der Ferieninsel festzusitzen. Wenn irgendetwas mit Volldampf in die Grütze läuft, geht eine Menge: Umbuchen, abhauen oder sogar ausbrechen. Alles schon erlebt. Das mit dem Ausbruch klingt spannender, als es sein kann. Imposanter wird das Ganze aufgepeppt, wenn ›The Rock‹, das legendäre Alcatraz damit in Verbindung gebracht wird. Meine Flucht hatte sogar etwas mit der Gefängnisinsel zu tun, obwohl diese selbst nicht direkt beteiligt war. Die Spannung in Minsk am Vortag meiner ›Abreise der besonderen Art‹, reichte mir. Den Felsen des hoffnungslosen Festsitzens in der San Francisco Bay erlebte ich Jahre zuvor.
Meinungen
Bin ich eine unsensible Tussi, überängstlich oder ein Kontrollfreak?
…