Leseposition speichern
Leseposition speichern

Mit dem Radlader ins Hotel

von Marc Krautwedel

Kapitel 16: Nicht von der Stange

Karte (Platzhalter)

Die Platzhalter-Karten werden ersetzt, und es wird eine Sammeldatenseite mit Maps und Ortsinformationen hinzukommen. Diese Seite erhält Ergänzungsdaten entsprechend der Kommentare in den Kapiteln.

Nicht von der Stange

Nicht von der Stange

Minsk


Am ersten Abend wollten wir nichts Großartiges mehr unternehmen. Wir gingen die wenigen hundert Meter zur Hauptstraße, der Repräsentiermeile von Minsk. Nicht viele Menschen waren unterwegs und von denen lachte keiner. Niemand unterhielt sich angeregt. Es sollte wohl die Prachtstraße sein. Sie war breit wie eine Magistrale. Etliche Gebäude, alle waren sie top gepflegt, sahen eher auf alt getrimmt aus. Es war der so typische sozialistische Nachkriegsklassizismus zur Darstellung von Stadt und Stärke.

Wir hatten Appetit, ohne es zu sagen. Mein Sohn konnte immer essen. Entsprechend sah auch aus und ich hatte mich auf der Zugfahrt zurückgehalten. Die Fahrt war stressig. Das hatte wenig mit der Mörderhitze im Zug zu tun. Nun war ich angekommen, hatte den Blick frei nach vorne und bekam Hunger. Katja ahnte es wohl und brachte uns direkt an besagter Hauptstraße, dem Prospekt Nesawissimosti, in ein Lokal. Der Gastraum war im hinteren Gebäudeteil. Vom schwer vorbeistellbar breiten Gehweg gingen wir durch einen etwa dreißig Meter langen Zugangstunnel und kamen in einen ungewöhnlich zugeschnittenen Raum, der keine Fenster hatte, dafür eine Galerie. Als wäre es ein kleines Theater gewesen, waren Scheinwerfer angebracht und der Saal mit Kunstlicht in abendlicher Stimmung illuminiert. Für mich nicht das, was ich als typisches Restaurant bezeichnen würde. Aber: andere Länder, andere Sitten. An der Straße gab es auch völlig normale, besonders internationale Lokale wie Pizzerien oder die bekannten Fast-Food-Ketten.

Mein Sohn drehte sich auf der Stelle und begann ungläubig zu lachen. Er sah seine Geliebte an und sagte: „Katja, Schatz, was machen wir hier?“

„Schaaatz, Essen hier ist sehr gut.“

„Das mag ja sein, aber denkst du wirklich, dass das der richtige Ort ist, um einer – meiner Mutter deine Heimat näherzubringen?“

Ich verstand kein Wort von dem, was mein Sohn sagte. Gut, von der Einrichtung her und auch vom Gesamtambiente war es eher im Stil eines Tanzlokales, Stunden vor dem Einlass. Es war noch recht früh am Abend. In Italien ist die Hauptspeisezeit ja auch später, wenn es draußen kühler wird. Okay, für Minsk vielleicht nicht das absolut treffende Argument. Aber es schien sich was zu tun und das Lokal sich zu beleben. Zumindest das Servicepersonal machte sich bereit für die Abendschicht fertig. Zwei Frauen kamen durch den Gang, den auch wir nahmen, und gingen an der kleinen Bühne vorbei zu den Personalräumen.

„Ist doch vollkommen egal. Wenn die schon geöffnet haben, bleiben wir hier. Katja, es ist nett. Dein zukünftiger Mann sucht sonst so lange nach einem anderen Lokal, bis sie alle geschlossen haben. Entschlussfreude und Kompromisse sind nicht seine Stärke. Viel Spaß damit.“ Ich präsentierte mein Goldstück wie eine Menschenhändlerin auf einem Markt von Feministinnen mit Racheabsichten.

„Das ist nicht euer Ernst? Die eine unsensibel, die andere unwissend“, sagte er und mir gefiel das Selbstgefällige in seinem Ton nicht.

„Schaaatz, das Essen ist hier wirklich sehr gut. Hier gibt es viele internationale Gäste.“

Katja blieb unberührt trotz des Hinweises meines Sohnes. Das irritierte mich dann doch etwas. Nicht dass sie ihre Meinung hatte und selbst bei einer Lappalie ihre Überzeugung vertrat, sondern wie sie es machte.

Junior hatte auch seinen Standpunkt – und die Faxen dicke. Er kam kurz von Wolke Sieben und sprach Tacheles, so, dass sogar ich an Möglichkeiten dachte, die ich nicht in Erwägung gezogen hatte: „Katja, willst du allen Ernstes behaupten, dass es eine kluge Idee ist, Anna nach der langen Zugfahrt in eine Nachtbar mit einer Pole-Dance-Stange zu schleppen? Soll sie hier devisenbringendes Essen kauen, während sich die Tänzerinnen an der Stange schon mal für die Geschäftsreisenden warm machen?“

„Gut Schatz, dann wir gehen in Pizzeria. Aber das Essen sehr gut, wirklich seeehr gut.“

Ich hatte mich schon gefragt, was die polierte Edelstahlstange im Zentrum des Ladens sollte. Das Wort Pole-Dance hatte ich noch nie gehört. Ich wusste unabhängig von der Bezeichnung, dass es gerade allgemein beliebter und ein kleiner Trend wurde. Was Leute bei sich zu Hause machen, ist deren Sache – und wenn Frauen Kurse besuchen, um sich vor Männern aufreizend zu bewegen, ist das deren Hobby. Leider hatte mein Sohn Recht mit seiner Einschätzung. Katjas Idee war nicht zu Ende gedacht. Wir gingen in eine Pizzeria, die auch nicht übermäßig gefüllt daherkam. Das lag eindeutig an den generell hohen Preisen. Es war geeignet zum Runterkommen. Zum emotionalen Warmwerden reichte es längst nicht. Wir sprachen in Ruhe und ohne Tanzeinlagen über die nahe und ferne Zukunft. Die direkt vor uns liegenden Wochen hatten genug unerkannte Chancen und Risiken im Aufgebot, dass ich begann, den Moment zu betrachten, ohne ihn bewerten zu wollen. Da liegt die Theorie über Einsicht und Ambitionen auf der gereinigten Straße neben der Realität. Die Aschenpiste auf der wir uns meiner Ansicht nach befanden, führte durch den Nebel. ›Stück für Stück‹, dachte ich, und am nächsten Tag waren wir am Fluss mit Katjas bester Freundin verabredet. Die Sonne schien und wir saßen auf einer Terrasse in einem Eiscafé am Wasser. Swetlana war viel kleiner als die große schlanke Katja mit ihren eins fünfundsiebzig. Mit ihren kurzen, brünetten Haaren hatte Swetlana etwas Kindliches im Gesicht. Doch sie war bereits Mutter und ihre sechsjährige Tochter saß mit am Tisch und aß Eis. Im Gegensatz zu Katja sprach Swetlana kein Deutsch, aber ein ausgezeichnetes Englisch. Wir plauderten über Minsk, ihr Leben und ihre Pläne mit ihrem Kind, das sie allein großzog. Sie hatte einen guten Job. Die Sonne schien und wie ging noch ein wenig durch die Stadt. Am Abend trafen wir einen von Katjas Brüdern zum Essen. Diesmal wieder in der Prachtstraße, aber in einem Lokal mit Ausrichtung auf amerikanische und mexikanische Küche. Es war ein normales Restaurant mit leicht erhöhten Sitzbereichen und entsprechenden Geländern aus dunklem Holz. Ihr Bruder war aufgeweckt – freundlich, unvoreingenommen und interessiert. Er sprach einnehmend und beobachtete gut. Es gab nichts zu meckern. Den Job im Bereich Computerreparatur und Programmierung machte er gern und überlegte, was er studieren würde. Mit einundzwanzig hatte er alle Möglichkeiten. Sein Zwillingsbruder war an dem Abend nicht dabei.

Meinungen

Was war der bescheuertste Ort, an dem Du jemals zum Essen warst?

Zur Vermeidung von Spam und Verbreitung von propagandistischen Inhalten, Beleidigungen und unziemlicher Wortwahl, werden alle Beiträge vor Veröffentlichung geprüft. Gleiches gilt für Kommentare, die so überhaupt nichts mit den Textinhalten zu tun haben. Eine Zensur von kritischen Äußerungen, Wertungen und Emojis findet nicht statt.

0 0 votes
Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Meinungen
Inline Feedbacks
Alle Kommentare zeigen

alle Kapitel

Kapitel 2: Nichtflieger

Kapitel 2: Nichtflieger

2 min 48 sec read
Kapitel 4: Lumumba

Kapitel 4: Lumumba

2 min 42 sec read
Kapitel 9: Brieffreundschaften

Kapitel 9: Brieffreundschaften

3 min 47 sec read
Kapitel 10: Nadelya

Kapitel 10: Nadelya

6 min 7 sec read
Kapitel 12: Lost Nuggets

Kapitel 12: Lost Nuggets

5 min 53 sec read
Kapitel 13: Eau de Toilette

Kapitel 13: Eau de Toilette

11 min 0 sec read
Kapitel 15: Ankunft in Minsk

Kapitel 15: Ankunft in Minsk

7 min 20 sec read
Kapitel 17: Lecker! Suuupe

Kapitel 17: Lecker! Suuupe

6 min 26 sec read
Kapitel 18: Essen mit Familie

Kapitel 18: Essen mit Familie

1 min 34 sec read
Kapitel 21: Lauschkommando

Kapitel 21: Lauschkommando

9 min 38 sec read
Kapitel 22: Puppentanz

Kapitel 22: Puppentanz

3 min 34 sec read
Kapitel 24: Mordsstimmung

Kapitel 24: Mordsstimmung

6 min 19 sec read
Kapitel 32: Dickschiffe

Kapitel 32: Dickschiffe

4 min 16 sec read
Kapitel 34: Bodenständig

Kapitel 34: Bodenständig

3 min 15 sec read
Kapitel 35: Mönch und Mayer

Kapitel 35: Mönch und Mayer

8 min 55 sec read
Kapitel 39: Piazza Grandiosa

Kapitel 39: Piazza Grandiosa

3 min 34 sec read
Kapitel 45: Gastfreundschaft

Kapitel 45: Gastfreundschaft

2 min 30 sec read
Kapitel 46: Personenverkehr

Kapitel 46: Personenverkehr

2 min 36 sec read
Kapitel 47: Schussfest

Kapitel 47: Schussfest

3 min 42 sec read
Kapitel 49: Amalfitana

Kapitel 49: Amalfitana

3 min 57 sec read
Kapitel 51: Capri oder Kubba

Kapitel 51: Capri oder Kubba

5 min 5 sec read
Kapitel 52: »Amaaalphi«

Kapitel 52: »Amaaalphi«

4 min 23 sec read
Kapitel 53: Luxus und Leben

Kapitel 53: Luxus und Leben

14 min 15 sec read
Kapitel 54: Meet and Greet

Kapitel 54: Meet and Greet

4 min 11 sec read
Kapitel 55: Stilfragen

Kapitel 55: Stilfragen

12 min 10 sec read
Kapitel 57: Muchos Nachos

Kapitel 57: Muchos Nachos

2 min 40 sec read
Kapitel 59: Pilzgerüchte

Kapitel 59: Pilzgerüchte

7 min 50 sec read
Kapitel 61: Kamelhandel

Kapitel 61: Kamelhandel

6 min 27 sec read
Kapitel 63: Montparnasse

Kapitel 63: Montparnasse

3 min 46 sec read

urheberrechtlich geschützte Inhalte