Nicht von der Stange
Minsk
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Am ersten Abend wollten wir nichts Großartiges mehr unternehmen. Wir gingen die wenigen hundert Meter zur Hauptstraße, der Repräsentiermeile von Minsk. Nicht viele Menschen waren unterwegs und von denen lachte keiner. Niemand unterhielt sich angeregt. Es sollte wohl die Prachtstraße sein. Sie war breit wie eine Magistrale. Etliche Gebäude, alle waren sie top gepflegt, sahen eher auf alt getrimmt aus. Es war der so typische sozialistische Nachkriegsklassizismus zur Darstellung von Stadt und Stärke.
Wir hatten Appetit, ohne es zu sagen. Mein Sohn konnte immer essen. Entsprechend sah auch aus und ich hatte mich auf der Zugfahrt zurückgehalten. Die Fahrt war stressig. Das hatte wenig mit der Mörderhitze im Zug zu tun. Nun war ich angekommen, hatte den Blick frei nach vorne und bekam Hunger. Katja ahnte es wohl und brachte uns direkt an besagter Hauptstraße, dem Prospekt Nesawissimosti, in ein Lokal. Der Gastraum war im hinteren Gebäudeteil. Vom schwer vorbeistellbar breiten Gehweg gingen wir durch einen etwa dreißig Meter langen Zugangstunnel und kamen in einen ungewöhnlich zugeschnittenen Raum, der keine Fenster hatte, dafür eine Galerie. Als wäre es ein kleines Theater gewesen, waren Scheinwerfer angebracht und der Saal mit Kunstlicht in abendlicher Stimmung illuminiert. Für mich nicht das, was ich als typisches Restaurant bezeichnen würde. Aber: andere Länder, andere Sitten. An der Straße gab es auch völlig normale, besonders internationale Lokale wie Pizzerien oder die bekannten Fast-Food-Ketten.
Mein Sohn drehte sich auf der Stelle und begann ungläubig zu lachen. Er sah seine Geliebte an und sagte: „Katja, Schatz, was machen wir hier?“
„Schaaatz, Essen hier ist sehr gut.“
„Das mag ja sein, aber denkst du wirklich, dass das der richtige Ort ist, um einer – meiner Mutter deine Heimat näherzubringen?“
Ich verstand kein Wort von dem, was mein Sohn sagte. Gut, von der Einrichtung her und auch vom Gesamtambiente war es eher im Stil eines Tanzlokales, Stunden vor dem Einlass. Es war noch recht früh am Abend. In Italien ist die Hauptspeisezeit ja auch später, wenn es draußen kühler wird. Okay, für Minsk vielleicht nicht das absolut treffende Argument. Aber es schien sich was zu tun und das Lokal sich zu beleben. Zumindest das Servicepersonal machte sich bereit für die Abendschicht fertig. Zwei Frauen kamen durch den Gang, den auch wir nahmen, und gingen an der kleinen Bühne vorbei zu den Personalräumen.
„Ist doch vollkommen egal. Wenn die schon geöffnet haben, bleiben wir hier. Katja, es ist nett. Dein zukünftiger Mann sucht sonst so lange nach einem anderen Lokal, bis sie alle geschlossen haben. Entschlussfreude und Kompromisse sind nicht seine Stärke. Viel Spaß damit.“ Ich präsentierte mein Goldstück wie eine Menschenhändlerin auf einem Markt von Feministinnen mit Racheabsichten.
„Das ist nicht euer Ernst? Die eine unsensibel, die andere unwissend“, sagte er und mir gefiel das Selbstgefällige in seinem Ton nicht.
„Schaaatz, das Essen ist hier wirklich sehr gut. Hier gibt es viele internationale Gäste.“
Katja blieb unberührt trotz des Hinweises meines Sohnes. Das irritierte mich dann doch etwas. Nicht dass sie ihre Meinung hatte und selbst bei einer Lappalie ihre Überzeugung vertrat, sondern wie sie es machte.
Junior hatte auch seinen Standpunkt – und die Faxen dicke. Er kam kurz von Wolke Sieben und sprach Tacheles, so, dass sogar ich an Möglichkeiten dachte, die ich nicht in Erwägung gezogen hatte: „Katja, willst du allen Ernstes behaupten, dass es eine kluge Idee ist, Anna nach der langen Zugfahrt in eine Nachtbar mit einer Pole-Dance-Stange zu schleppen? Soll sie hier devisenbringendes Essen kauen, während sich die Tänzerinnen an der Stange schon mal für die Geschäftsreisenden warm machen?“
„Gut Schatz, dann wir gehen in Pizzeria. Aber das Essen sehr gut, wirklich seeehr gut.“
Ich hatte mich schon gefragt, was die polierte Edelstahlstange im Zentrum des Ladens sollte. Das Wort Pole-Dance hatte ich noch nie gehört. Ich wusste unabhängig von der Bezeichnung, dass es gerade allgemein beliebter und ein kleiner Trend wurde. Was Leute bei sich zu Hause machen, ist deren Sache – und wenn Frauen Kurse besuchen, um sich vor Männern aufreizend zu bewegen, ist das deren Hobby. Leider hatte mein Sohn Recht mit seiner Einschätzung. Katjas Idee war nicht zu Ende gedacht. Wir gingen in eine Pizzeria, die auch nicht übermäßig gefüllt daherkam. Das lag eindeutig an den generell hohen Preisen. Es war geeignet zum Runterkommen. Zum emotionalen Warmwerden reichte es längst nicht. Wir sprachen in Ruhe und ohne Tanzeinlagen über die nahe und ferne Zukunft. Die direkt vor uns liegenden Wochen hatten genug unerkannte Chancen und Risiken im Aufgebot, dass ich begann, den Moment zu betrachten, ohne ihn bewerten zu wollen. Da liegt die Theorie über Einsicht und Ambitionen auf der gereinigten Straße neben der Realität. Die Aschenpiste auf der wir uns meiner Ansicht nach befanden, führte durch den Nebel. ›Stück für Stück‹, dachte ich, und am nächsten Tag waren wir am Fluss mit Katjas bester Freundin verabredet. Die Sonne schien und wir saßen auf einer Terrasse in einem Eiscafé am Wasser. Swetlana war viel kleiner als die große schlanke Katja mit ihren eins fünfundsiebzig. Mit ihren kurzen, brünetten Haaren hatte Swetlana etwas Kindliches im Gesicht. Doch sie war bereits Mutter und ihre sechsjährige Tochter saß mit am Tisch und aß Eis. Im Gegensatz zu Katja sprach Swetlana kein Deutsch, aber ein ausgezeichnetes Englisch. Wir plauderten über Minsk, ihr Leben und ihre Pläne mit ihrem Kind, das sie allein großzog. Sie hatte einen guten Job. Die Sonne schien und wie ging noch ein wenig durch die Stadt. Am Abend trafen wir einen von Katjas Brüdern zum Essen. Diesmal wieder in der Prachtstraße, aber in einem Lokal mit Ausrichtung auf amerikanische und mexikanische Küche. Es war ein normales Restaurant mit leicht erhöhten Sitzbereichen und entsprechenden Geländern aus dunklem Holz. Ihr Bruder war aufgeweckt – freundlich, unvoreingenommen und interessiert. Er sprach einnehmend und beobachtete gut. Es gab nichts zu meckern. Den Job im Bereich Computerreparatur und Programmierung machte er gern und überlegte, was er studieren würde. Mit einundzwanzig hatte er alle Möglichkeiten. Sein Zwillingsbruder war an dem Abend nicht dabei.
Meinungen
Was war der bescheuertste Ort, an dem Du jemals zum Essen warst?
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