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Mit dem Radlader ins Hotel

von Marc Krautwedel

Kapitel 15: Ankunft in Minsk

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Ankunft in Minsk

Ankunft in Minsk

Weißrußland und Minsk


Dort ›oben‹ im Zug an der weißrussischen Grenze war ich weder beleidigt noch genervt. Ich fragte mich nur, was ich da sollte. Im Zug, in Minsk und später in Italien. Es ist eine nette, aber auch naive Vorstellung, verschiedene Menschen mit einem Kaltstart in Trab zu setzen, wenn die Ziele völlig unterschiedlich sind. Sicher, wer der Weltfrieden fordert, punktet immer. Ein Ehemann, der mit der Kettensäge den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer zerlegt, hat schon im kleinsten Kreis nicht zwingend mit ungeteilter Zustimmung zu rechnen. Alles erlebt – bis auf den Weltfrieden.

Mir gegenüber saß ein an sich gestandener Mann, der eine Leichtigkeit versprühte, als wären wir auf dem Weg in Spielzeugland. Nicht, dass irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft bei mir eine Durchsage kommt: „Der kleine Mayer möchte aus dem Kinderparadies geholt werden, weil ihn die anderen Kinder ärgern.“ Wir fuhren wieder und die weißrussischen Grenzbeamten waren im Zug. Ihre Klamotten und ihre Mimik sagten nur eins: Ablehnung. Sie kamen grimmig ins Abteil und sahen in uns ein illustres Paar. Die strengen Blicke glitten mehrfach in ungläubiges Beäugen ab. Diesen Eindruck mag der jetzt dominante Geruch des Parfüms, dass ich zuvor versprüht hatte, um den Uringestank zu mildern, unterstützt haben. Sie blieben schroff und durchsuchten all unsere Koffer und Taschen. Pässe und Visa wurden mit Augenmaß sogar auf Echtheit überprüft. Auch das Rückfahrticket wollten sie sehen. Warum, weiß ich nicht. Ich hatte nicht vor, in Weißrussland unterzutauchen.

Entgegen den vollmundigen Versprechungen meines Sohnes hatten wir auf der gesamten Fahrt nicht mehr als zwei Stunden geschlafen. Es war immer irgendetwas los. Zum Glück hatte sich nicht rumgesprochen, dass auch bei uns im Abteil eine Toilette war. Die offizielle Variante war spärlich und sinnigerweise gleich mit der Dusche kombiniert. Beides fand am Morgen regen Zuspruch. Auf das eine musste ich. Auf das andere konnte ich verzichten. Wir fuhren durch die weißrussischen Landschaften wie durch eine ferne Zeit.

„Guck mal, die Felder sehen schlimm aus.“

Mutter, dass es ein anderes System. Die Bauern haben kaum was davon, wenn sie etwas anbauen. Außerdem sieht es so aus, als würden sie noch mit Pferden die Äcker pflügen.

„Trotzdem. Das lässt man so nicht liegen.“

„Ich weiß, du bist Bauernblut. Vielleicht wächst da einfach nichts.“

„Natürlich. Sieh es dir doch an. Vorhin gut für Kartoffeln, hier ideal für Futterrüben.“

„Spricht mit meinen zukünftigen Schwiegereltern heute Abend drüber. Das wird sie brennend interessieren. In vierzig Minuten sind wir in Minsk.“

Das hätte er nicht sagen sollen. Oder doch? Mit meiner Überpünktlichkeit hatte ich schon meinen Mann genervt. Genauso wie seinen Sohn, sonstige Verwandte, Mitreisende auf Gruppenreisen – aber auch nur Menschen, die zufällig neben mir in Zügen, Fähren oder Flughafenterminals waren. Von den Taxifahrern bei der Nachfrage über den Verkehr gar nicht zu sprechen. „Was? Nur noch vierzig Minuten? Warum hast du mir das nicht gesagt? Wir müssen uns fertigmachen.“

„Wir sind fertig. Das Zeugs ist in die Taschen. Jacken an und raus. Und steh bitte gleich nicht eine Viertelstunde im Gang rum. Du wirst es merken, wenn wir langsamer werden und über die Weichen klappern.“ Er lehnte sich wieder entspannt zurück. Gespielt, denn eigentlich war er aufgeregt, durch die Heimat seiner zukünftigen Frau zu fahren. Junior hatte Minsk als sein zweites Zuhause erklärt. Nur für sich. Es war eine Entscheidung für einen Menschen. Der Rest würde sich ergeben. Er liebte die Stadt, ohne bisher jemals dort gewesen zu sein. In erwartungsfroher Unruhe sah er aus dem Fenster und nahm mit den Augen die Witterung auf, wie es unser Dackel früher mit der Nase an der Frischluftzufuhr im Auto tat, wenn wir mit ihm durch Wolken neuer, fremdartiger Reize fuhren. Noch aufgeregter war er – der Hund – nur bei dem Aufschnappen von vertrauten Gerüchen der Heimat auf dem Rückweg. Meine Beurteilung der aktuellen Lage war Junior bekannt. ›Er schickt sich an, die Katze im Sack zu kaufen und damit gleich das ganze Gehege.‹

Als der Zug hielt, stand Katja am Bahnsteig und umarmte mich. – Zuerst. „Hallo Anna“, sagte sie mit einem zittrig-sanften Stimmchen. „Danke, dass du mitgekommen bist. Ich bin sehr froh, dass ihr beide hier seid. Das ist mir sehr wichtig“, sagte sie mit Tränen in den Augen und meine Knie wurden weich, als ich ihre herzliche Umarmung erwiderte. Dann küsste sie ihren Verlobten.

›Zack.‹ Und wieder was um mich geschehen. Ich liebe das Sonntagabend-Herzkino. Dieser Augenblick war eine Schippe drauf. Die Liebenden würden sich finden und das Böse, meist in Gestalt einer älteren Person würde scheitern und sich vom Acker machen. Moment: Den zerstörerischen Nebendarsteller hatte ich noch nicht geortet. ›Sollte etwa …? Ich würde es in keinem Fall sein. Zumindest jetzt nicht mehr – und jedenfalls vorerst nicht.‹

Auf der Taxifahrt zum Hotel konnte ich einen ersten Eindruck von der Stadt gewinnen. Teilweise sehr modern und in der City blitzsauber. ›Hey, das ist eine Großstadt.‹ Normalerweise sind die voll mit Menschen und allerlei unachtsam Weggeworfenes flattert durch die Straßen. In Minsk war nicht einmal ein vereinsamter Zigarettenstummel im Rinnstein zu vermuten.

Beim Hotel hatten wir uns nicht lumpen lassen. Das war der Vorschlag meines Sohnes. Er wollte sichergehen, dass ich nach einer möglicherweise stressigen Zugfahrt – ich hab keine Ahnung, wie er im Vorweg bei all seinem schönfärbenden Salonwagengerede darauf kommen konnte – ich einen ›Rückzugsort‹ haben würde. Das Hotel Europa war erst im Vorjahr neu eröffnet worden und galt zu der Zeit als das beste Haus in Osteuropa. Feinste Lage und voll aufgemöbelt strahlte der Bau mit weißer Putzfassade und Balkonen Reichtum aus. So, wie man sich ein gediegenes Luxushotel vorstellt, das auch am Pariser Platz in Berlin oder in Paris selbst stehen könnte. Draußen wie drinnen hatte es edelste Materialien. Die aufsehenerregende Hotelhalle war in einem dezenteren Dubai-Format gehalten. Es war, wie man sich prachtvolle Eleganz nur wünschen könnte, wenn man es denn wollte.

Das Programm für die kommenden Tage war klar. Ich kannte es nicht. Mein Sohn kannte es nicht. Katja kannte es. Sicher werden wir irgendwie darüber gesprochen haben, aber es schien alles geregelt. Für mich war die Situation schwimmend gelagert. Einerseits erweckte alles in dieser nur im Zentrum kompakten Zweimillionenstadt einen Eindruck von mehrsinniger Reibungslosigkeit. Alles war fraglos glatt. Andererseits hatten wir keinen Plan, und ich kam mir wie ein Korken schwimmend vor, der ziellos den Wasserbewegungen ausgesetzt ist. Geglättete Wogen sind keine Garantie, dass die Unterströmung nicht alles mitreißt, was am Korken hängt. Unser Hotel war nur einen Steinwurf vom Rathaus entfernt. Genauso von allen Einrichtungen, herausgeputzten Gebäuden, Infrastruktur und Geschäften, die dem Geltungsdrang der Hauptstadt eines prosperierenden Landes entsprechen. Es war mehr als sonderbar und das Gefühl kannte ich nicht. Den Unterschied zwischen Urlaub und Reise fühlte ich allgegenwärtig. Es war ja nicht allein, dass wir dorthin gefahren waren, um meine zukünftige Schwiegertochter abzuholen. Ein kurzes ›Hallo‹ zu der angehenden erweiterten Verwandtschaft zu sagen, war es nicht. Davon, dass ich danach unfreiwillige Begleiterin auf etwas dämlichen wie vorgezogenen Flitterwochen wäre, ganz zu schweigen. Das war Minsk, die Hauptstadt von Weißrussland, Katjas Heimat. Dort wohnten ihre Eltern, ihre Brüder und ihre Großmutter. Dort war Katja zur Schule gegangen, hatte ihr internationales Studium begonnen, dass sie dann in Paris und Amsterdam fortgesetzt hatte. Hier waren ihre Wurzeln. Diese wollte sie aus Liebe für unbestimmte Zeit verkümmern lassen, um mit meinem Sohn ein neues Leben zu beginnen.

›Kann das gut gehen?‹ Ich fragte es mich losgelöst davon, ob sie die Richtige für ihn oder er der Geeignete für sie wäre. Ich fragte mich unabhängig davon, ob es ein Traum oder erstrebenswert ist, in den Westen zu ziehen. Wenn es für sie so gewesen wäre, war ich die Erste, die es hätte nachvollziehen können. Als junge Frau hätte ich mir einen Fuß aus dem Fangeisen abgekaut, meinem Freiheitsdrang in die USA zu folgen – obwohl ich Deutsche und Europäerin bin. Die Wurzeln hätte ich nie verleugnet, egal wo ich hingezogen wäre. Diese junge Frau schien mir aber – nur bezogen auf ihre Herkunft – eine engere Bindung zu ihrem Nationalstolz zu haben als ich. ›Es wird nicht leicht für sie werden.‹ Ich bin kein Orakel. Ob das gut ausgehen würde, konnte niemand sagen.

Meinungen

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