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Mit dem Radlader ins Hotel

von Marc Krautwedel

Kapitel 11: Blaue Nägel am Newski

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Die Platzhalter-Karten werden ersetzt, und es wird eine Sammeldatenseite mit Maps und Ortsinformationen hinzukommen. Diese Seite erhält Ergänzungsdaten entsprechend der Kommentare in den Kapiteln.

Blaue Nägel am Newski

Blaue Nägel am Newski

Sankt Petersburg

Es war Frühling und was alles in der Luft umhergeisterte, wollte ich nicht wissen. In der Maschine von Helsinki saßen nur siebzehn Passagiere. Wir waren früh dran, hinter den jetzt löchrigen Eisernen Vorhang zu kommen. Ich landete in Sankt Petersburg, um Lena, die Enkelin meiner verstorbenen Brieffreundin zu besuchen. Mehr als das Notwendige hatte ich klar gemacht und in der Stadt eines der renommierten guten Hotels am Isaaksplatz gebucht, genauso wie den Transfer dorthin. Sogar Karten für das Mariinski-Theater hatte ich. Alles war geregelt und ich landete auf dem schrottigen Flughafen von St. Petersburg. Nichts funktionierte. Nichts passierte. Keine Abfertigung. – Ich suchte mein Zeugs selbst und ging raus. Nichts. Kein Shuttle, kein Taxi, kaum Menschen, nur hängende Gesichter. Ich war auf hundertachtzig Sachen und trotzdem noch am Beschleunigen. Es mag sein, dass ich etwas geschnaubt hatte und Feuer aus meinen Nüstern kam. Ein Mann wagte es tatsächlich, mich anzusprechen. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er auf Englisch.

„Wie sollten Sie das regeln. Was ist das für ein Scheißland? Hier funktioniert nichts. Alles bestellt und reserviert, und nicht einmal der Scheißwagen zum Hotel ist da.“

„Ah, Sie sind Italienerin.“

„Nein, Deutsche.“

„Also eine deutsche Italienerin. Sehr angenehm. Mein Name ist … “ Er stellte sich vor. „Ich bin beim russischen Geheimdienst beschäftigt. Das bekommen wir hin.“

›Zumindest sein Name scheint kein Geheimnis zu sein. Oder der ist genauso falsch am Platz, wie ich mich fühle.‹ Er winkte einen Mann zu sich, sprach kurz mit ihm und er versuchte, nicht-investigative Kommunikation zu betreiben, während ich etwas runterkam. Wir standen vor der Tür. Eine schwarze Stretchlimousine – mehr noch: eine Staatskarosse russischer Bauart – hielt, um mich zu befördern. Ich war neugierig auf die europäischste russische Stadt. Die Bauwerke, die Kunstwerke der Eremitage, das Lebensgefühl warteten auf mich und ich freute mich auf Lena. Diese stand schon mit ihrem Freund Andrej vor dem Hotel. Ich hatte es nicht mitbekommen, weil ich direkt in die Lobby gerauscht war und der Drehtür zeigte, was Geschwindigkeit ist. Ich sah die beiden in der Nähe der Rezeption, als ich eincheckte. Sie klebten von außen an der Fensterscheibe wie Stofftiere. Ich bemerkte sie durch ihr Klopfen. ›Endlich klappt hier was‹, freute ich mich und winkte sie hinein. Pustekuchen. Ich hatte meine Rechnung ohne den Wirt gemacht und der hatte seine eigene Vorstellung von gesellschaftlichem Umgang.

„Hier kommen nur Gäste des Hauses herein“, klärte mich eine unvorsichtige Mitarbeiterin des Hotels auf. Sie spielte mit mehr als dem guten Ruf des Etablissements. Scheinbar hatte Russland alle Voraussetzungen geschaffen, dass ich stinksauer werden musste. Kein Thema; hat funktioniert. Und schon wieder gab es Ärger, bei dem ich nicht den Streit angefangen hatte, aber die Bataille gewann.

Nach einer herzlichen Umarmung mit Lena und dem Einchecken setzten wir uns in die Bar, tranken Kaffee und unterhielten uns. Es gefiel ihnen im Hotel und sie fühlten sich bei mir sicher. Zu sicher. Andrej stand auf, ging zu einem Kellner und sprach mit ihm.

„Gibt es wieder Ärger?“, rief ich laut durch den Barbereich der Lobby.

„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich frage nur nach der Speisekarte.“

„Was tust du? Wenn du es dir leisten kannst, okay. Ansonsten würde ich gern gefragt werden. Vorher.“ Nun hatten auch die restlichen Anwesenden mitbekommen, dass ›A German in da House‹ war. Ein gepflegter Mann mit vollem Rauschebart saß am Nachbartisch, lächelte, stand auf, verbeugte sich leicht, zog seinen legeren Hut vor mir und setzte sich wieder.

Ich nickte ihm zu. ›Was ist hier los?‹, fragte ich mich, obwohl ich seine Zustimmung zu meinem Verhalten als selbstverständlich erachtete.

„Anna, kennst du ihn?“, fragte Lena aufgeregt. Andrej saß wieder am Tisch; unverrichteter Dinge.

„Woher sollte ich? Von den anderen sechzehn aus dem Finnlandflieger ist keiner hier.“

„Das ist ›Tutnichts-zur-Sache‹, ein berühmter russischer Schriftsteller.“

Jetzt weiß ich, wer es war, aber damals dachte ich nur: ›Tolstoi kann es nicht sein. Die vielbeschriebene und besungene russische Seele muss ganz schön herhalten, um Nachlässigkeit und schlechtes Benehmen zu kaschieren.‹

Später sind wir zu ihr rausgefahren. Nicht zur russischen Seele, sondern in die Plattenbausiedlung, in der Lena wohnte. Es liegt sicherlich an mir, aber so ganz warm bin ich nicht mit dem Lebensgefühl geworden. Ich dachte damals und glaube es noch immer, dass – wie bei den russischen Dichtern – hinter einem großen Vortrag auch ein guter Gedanke stecken könnte. Natürlich tat es mir leid und ich war entrüstet, dass die Nahrungsmittel unerschwinglich waren. Aber die exemplarisch als zu teuer verteufelten Tomaten hätte Lena auf der langen, voll besonnten Fensterbank ziehen können. Die Saatpreise waren mir gänzlich unbekannt. Die gefeierte Leidensfähigkeit nicht. Es ist absolut nicht politisch korrekt und es gibt für alles Erklärungen. Natürlich historisch, in der gesellschaftlichen Entwicklung ist viel zu begründen. Aber jammern und gar nichts tun, kapiere ich nicht. Etliche der Menschen, die laut litten, waren bestens ausgebildet, intelligent und völlig gesund. Das waren auch diejenigen Typen, die aus dem Weg gegangen waren, als eine Frau auf dem Bürgersteig umgefallen und auf der Straße gelandet war. Das passierte vor meinen Augen, mitten auf dem Newski-Prospekt. Ein Bus rauschte ran und keiner half ihr auf. Sie kam zu sich und rollte auf den Gehweg. Ich war am weitesten entfernt, doch als Erste bei ihr. Als ich – natürlich auf Deutsch – schimpfte, kamen sie zurück, um zu helfen. ›Ich habe so was von die …‹

Lena zeigte mir ihre Stadt. Die imposanten Bauten hatten nichts mit der gesellschaftlichen Realität zu tun. Ich war in der Eremitage und warum auch immer hatte mich der Direktor in ein Zimmer geführt, das zumindest derzeit nicht öffentlich zugänglich war. Er präsentierte mir ein Tasteninstrument, auf dem Chopin gespielt hatte. Die Gegensätze machten meiner Menschenliebe zu schaffen.

Als ich in eine Kirche ging, schnauzte ein russisch-orthodoxer Priester mich auf Deutsch an: „Es geht gleich los. Zack, zack“, und er klopfte dabei auf seine Armbanduhr. Ich habe keine Ahnung, wie sie immer darauf kommen, dass ich Deutsche bin. Mein Hauttyp ist nun wirklich nicht nordisch und meinem Aussehen ist die Herkunft nicht ablesbar. Ich hatte mich eingewöhnt: „Ich danke Ihnen für die Information“, und dachte: ›Du kannst auch gleich einen in die Wäsche kriegen.‹ Bei mir hatte sich ein kleiner Widerstand eingerichtet. Und er machte sich breiter. Ich pfiff auf Aussagen, Ansagen und Kommandos, auf Regeln und auf dumme Sprüche.

In Peterhof, dem Sommerpalast des Zaren, hätte ich gar nicht sein dürfen, weil dafür mein Visum nicht ausgestellt war. Es liegt außerhalb der Stadt. In einem Restaurant dort saß neben uns ein junges französisches Paar. Sie versuchten, schon geraume Zeit zu bestellen. Die Kellner hatten sie nicht nur ignoriert, sondern schließlich auch direkt abgewiesen. Ich pfiff die Mannschaft zusammen und fragte sie, was ihre russischen Mütter davon halten würden. Dann lief es. Die die beiden süßen, verliebten Franzosen bedankten sich mit den rechten Händen auf ihren Herzen. Irgendwie war ich angefressen. Erschöpft, desillusioniert und der rote Lack meiner eigentlich gesunden Fingernägel begann sich blau zu verfärben. Ich war säuerlich. Der Luft ging es, dem tiefblauen Anschein meiner Nägel nach zu urteilen, ebenso.

Abends suchte ich die Hotelbar auf. Ganz unterschiedliche Menschen waren da zu finden. Ein japanischer Modezar gab sich, wie er war: beeindruckend zurückhaltend und geradlinig. Er trug einen schwarzen Anzug mit Stehkragen. In den Anfängen der freien Marktwirtschaft war ein goldgrabender Haufen internationaler Reisender aus dem Immobilienhandel und der Industrie sowie Verkäufer und Unternehmensvertreter zur Gründung von Niederlassungen am Start. In voller Montur saßen unter ihnen einige EU-Kommissare und deren Mitarbeiter. Wenige Stunden später wollten sie in den Hafen von Sankt Petersburg gehen, um ein Schiff mit Hilfslieferungen zu bewachen. Es war eine Lieferung mit Kartoffeln und die Kommissare waren dafür verantwortlich, dass die Kartoffeln ihr Ziel erreichten und nichts geklaut würde. Ich unterhielt mich mit Ihnen und Sie hatten die Nase voll wie ich. Aus dem Mariinski-Theater, für das ich Karten reserviert hatte, rollte ich rückwärts wieder raus. Die Theaterkarten waren so begehrt, weil günstig. Nicht dass es um das Theater ging. In der Pause gab es belegte Brötchen. Die waren als Freiverkauf in der Stadt unerschwinglich.

Am seltsam einsamsten empfand ich ein nächtliches Szenario auf dem Isaaksplatz. Es war einer jener Momente, die völlig unspektakulär und unbewegt die Wahrnehmung streifen, um sich doch prägend als Bild einzubrennen. Ein Motorradfahrer saß seitlich auf seinem abgestellten Zweirad mitten auf dem menschenleeren Platz und sah mit genauso entleertem Blick ins Nichts.

So viele Eindrücke ich auch in der Woche gewonnen hatte, so sicher war ich mir in den nächsten mindestens zwanzig Jahren nicht wiederzukommen. Auf dem damals sehr robusten Flughafen war ich nicht erleichtert, sondern noch immer geplättet. Neben mir in der Wartezone saß eine Gruppe, ein Ensemble deutscher Schauspieler, die ich alle aus dem Fernsehen kannte und kenne. Sie waren im Auftrag des Goethe-Instituts für einige Aufführungen in der Stadt und genauso auf der Rückreise. Mit der mir am bekanntesten Schauspielerin kam ich ins Gespräch. Sie sah so mitgenommen aus, wie ich mich fühlte, und er bestätigte es mir umgekehrt. Wir hatten in Sankt Petersburg ähnliche Erfahrungen gemacht und die gleichen trostlosen Rückschlüsse gezogen. Heulend lagen wir uns in den Armen. Ein Kollege von ihr aus dem Ensemble – er ist bekannt für seine Rollen in Komödien und Liebesgeschichten – kam in possierlicher Geberlaune unsensibel in unsere tiefen Emotionen getrabt. „Na, Mädels. Wie wäre es mit einem Glas …“. Weiter kam er nicht. Falscher Ort und falscher Zeitpunkt.

›Home Sweet Home‹. Zuhause ist es doch am besten. Zumindest ist das Elend abwägbar und manchmal abwendbar.

„Das muss ja übel gewesen sein. Du siehst vielleicht schrottig aus.“ Der Ton macht die Musik und mein Sohn betonte seinen Begrüßungssatz zweifelsfrei in Richtung Superlativ. Leider hatte er recht.

Lena besuchte mich ein Jahr später. Trotz dessen wir uns gut verstanden hatten, brach der Kontakt danach ab.

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