Nadelya
Es begab sich zu der Zeit der anfänglichen Perestroika, als ein kalter Winter der Bevölkerung in Russland zusetzte. Es war kein Märchen. Es ging weder um Wodka noch um Oligarchen. Die Menschen hungerten und froren. Hamburg als Partnerstadt von Sankt Petersburg war zu dieser Zeit sehr aktiv und von den Bürgern der Metropolregion wurde im großen Umfang gesammelt. Sie packten Unmengen von Carepaketen, und es reichte nicht. Ich ging ein Schritt weiter und wurde Mitglied in einem deutsch-russischen Freundschaftsverein. Ich hatte noch einen anderen Grund, mich zu engagieren. Durch einen Klub, in dem Brieffreundschaften vermittelt wurden, hatte ich zahlreiche Freundinnen in der Welt verstreut, denen ich schon zum Teil seit Jahren schrieb. In Summe war es vielleicht sogar weniger Aufwand als heute in Social Media. Weil die handgeschriebenen Briefe so lange auf dem Postweg unterwegs waren, hatte ich mir genau überlegt, was ich schrieb und wie ich auf mein Gegenüber eingehen konnte. Wir wollten mehr voneinander erfahren. Wir erzählten uns unser Leben und schickten uns Fotos. Meine Brieffreundin in Sankt Petersburg war Nadelya. Sie entsprang einer alten Eisenbahnerdynastie, einer Kiewer Familie, die zu Zarenzeiten die Kontrolle über ein weites Streckennetz in Russland, dem Russischen Reich betrieben hatte. Nach der Enteignung führten auch sie im Sozialismus ein bescheidenes Leben. Natalia war zweiundachtzig Jahre alt und wohnte mit ihrer Enkeltochter Lena zusammen. In der Zeit der Not schickte ich sehr häufig sehr viele Pakete. Eines Tages bekam ich keine Nachricht mehr von ihr und machte mir Sorgen. Mit Hintergedanken aber direkt frei raus fragte ich meinen Mann: „Du hast doch überall gute Kontakte. Auch nach Russland?“
„Weltweit. Sicher. Wo denn?“
„Sankt Petersburg. Kennst du da jemanden?“
„Ich? Woher sollte ich? Aber ich kann mal im Büro fragen. Bestimmt gibt es jemanden, der jemanden kennt. Warum?“
„Was ist das für eine Frage? Wie unsensibel! Du hast doch mitbekommen, dass sich schon seit sechs Wochen keine Post mehr von Nadelya bekommen habe. Es ist kalt, sie ist alt und ich mache mir Sorgen.“
Mein Mann wusste, dass er das Gespräch nicht wirklich fortführen wollte. Ein krankes, altes Mütterchen in Russland war nicht unbedingt das Bild, das er brauchte, wenn er sein dickes, paniertes Kotelett mit Kartoffeln und Erbsen-Karottengemüse aß.
„Schreib mir mal den Namen und die Anschrift auf. Ich kümmere mich darum.“
Wenn Herr Mayer sagte, er kümmerte sich, dann tat er es. – Solange es nicht so etwas Läppisches wie die Acrylverfugung von der Duschwanne war. Bäume fällen, Feuer machen oder unsinniges Zeug bestellen, war mehr seine Sache. Das Reinigen der Dachrinne sah bei ihm gefährlich aus. Als die Toilette verstopft war, hörte man sein Fluchen bis in die nächste Ortschaft, während er mit der Toilettenspirale durch das Abflussrohr kurbelte.
Es dauerte nur drei Tage. Mein Mann kam von der Arbeit, stellte seine Tasche hin und sagte: „Anna, tut mir leid. Deine Freundin in Sankt Petersburg ist gestorben.“
Ich kann nicht behaupten, dass ich überrascht war. Meine Unruhe hatte sich längst in eine Ahnung gewandelt. Trotzdem hakte ich nach. „Bist du dir sicher? Hat jemand die Familie erreicht?“
„Unsere Kontaktleute sind aus der Innenstadt raus durch den Schnee gefahren und haben die Enkelin zu Hause angetroffen. Hier ist ein Brief von ihr. Sie haben ihn gefaxt.“ Auftrag ausgeführt. Für ihn war das Thema erledigt.
Es war eine alte Frau und sie starb weniger an Not als an Jahren. Mein Ehemann lag falsch, dass er damit raus aus der Angelegenheit war. Es kam anders. Die Leute, die er hat bitten lassen, nach Nadelya zu sehen, behielten Kontakt und fragten dann später, ob er die Firma nicht übernehmen wollte. Er hatte dahingehend null Ambitionen. Der Gedanke aber, zu Zeiten der Perestroika in der Schwesterstadt von Hamburg schon mal ein Mini-Standbein zu haben, reizte ihn – wie andere vor und nach ihm. Er fing an, sich für die niedrigen Lohnkosten des Büros, die rechtlichen Grundlagen und vor allem für politische Vorteile zu interessieren, die er in Hamburg nutzen wollte. So kam es, dass er die Firma übernahm und die Genehmigung der Stadt Sankt Petersburg durch den zweiten Bürgermeister Wladimir Wladimirowitsch Putin erteilt wurde. Dessen Unterschrift befindet sich auf den Originaldokumenten gleich beim Stempel der Stadt. Mein Mann war nur einmal dort. Der Unterzeichnungsakt mit Putin war technisch nicht mehr als eine Gewerbeanmeldung. Gefeiert wurde trotzdem. Schon zu dem frühen Zeitpunkt gab es deutliche Spuren der Verknüpfung mit Hamburg – auch in der Gastronomie. Die Sankt Petersburger Repräsentanz wurde schicker in der Tampowskayastraße eingerichtet. Wirtschaftlich gesehen war es völliger Blödsinn. Arbeitsweise und Zielsetzung waren so verschieden, dass den Betriebskosten kein Mehrwert – ideell oder monetär – gegenüberstand. Die Firma war eine Lizenzgesellschaft. Mein Mann löste sie operativ auf und an mir lag es später, die Lizenz zu verwerten. Dazu knüpfte mein Sohn Kontakte. So auch nach Minsk, weil Sascha, Katjas Arbeitgeber über Geschäftspartner in Köln sein Interesse bekundete.
Im Grunde ist die Brieffreundschaft zu der alten Frau in Sankt Petersburg der Ausgangspunkt einer Reise, die bis in den Zug von Berlin nach Minsk führte.
Ich hielt weiter Kontakt zu der Enkelin meiner verstorbenen Brieffreundin. Inzwischen hatte ich eine Menge Kenntnisse über Sankt Petersburg erlangt und wollte unbedingt dorthin fliegen.
Nach vortrefflicher Vorbereitung bin ich von meiner Familie nach Hamburg zum Flughafen gekarrt worden, um in den Flieger zu steigen, der mich in die Stadt meiner neuen Begeisterung bringen sollte. Der Herr lacht, wenn Menschen Pläne machen. Es gab einen Streik und immer mehr Flüge wurden gecancelt. So auch mein Direktflug. Junior hatte eine Idee: „Du musst hier raus! Jetzt. Hier ist gleich alles dicht und nicht nur für heute. Sie zu, dass du wegkommst.“ Er sah auf die Anzeigetafel. „Da geht einer nach Amsterdam. Nimmt den.“ Er hatte es gesagt und ich folgte den Anweisungen des Teenagers.
Auf dem Flughafen Schiphol regelte ich den Weiterflug, der allerdings erst am folgenden Tag über Helsinki möglich war. Trotzdem Grund zur Freude. Mein Flug war der letzte, der an diesem 15. Mai und in den darauffolgenden Tagen in Hamburg rausging. Ich nahm mir ein Zimmer in einem Hotel direkt am Airport und ein Taxi in die Stadt. Amsterdam kannte ich von früher, aber hatte überhaupt keine Orientierung oder Ahnung, wo ich hingehen könnte, um es etwas zu begreifen, von Aufsaugen gar nicht zu sprechen. Der Taxifahrer war von unfassbarer Freundlichkeit erfüllt, als ich ihm meine Unkenntnis mitteilte. Er chauffierte mich durch die ganze Stadt und erklärte mir, was ich wissen musste, um besser zu verstehen. Mindestens eine Stunde fuhr er und erzählte. Dann setzte er mich in der Innenstadt ab und präsentierte mir die Rechnung für das Einzelsightseeing im Taxi: „Zwanzig Gulden bitte.“ Damit käme man normalerweise gerade eine Viertelstunde aus. Er hatte noch einen guten Hinweis für mich: „Bleiben Sie im Zentrum und sprechen Sie kein Wort Deutsch. Gestern jährte sich die Bombardierung Rotterdams durch die Deutschen und heute die Kapitulation der Niederlande.“
Am nächsten Morgen hob ich mit Zwischenziel zwei Richtung Helsinki ab.
Meinungen
Ich habe in Amsterdam einiges gesehen aber kaum Gelegenheit gehabt, etwas zu erleben. Die Stadt muss klasse sein?
…