Leseposition speichern
Leseposition speichern

Mit dem Radlader ins Hotel

von Marc Krautwedel

Kapitel 35: Mönch und Mayer

Karte (Platzhalter)

Die Platzhalter-Karten werden ersetzt, und es wird eine Sammeldatenseite mit Maps und Ortsinformationen hinzukommen. Diese Seite erhält Ergänzungsdaten entsprechend der Kommentare in den Kapiteln.

Mönch und Mayer

Mönch und Mayer

Loreto

Es ging weiter. Wir wollten uns den Abruzzen nähern und hatten noch überhaupt keine Ahnung, wo wir Zwischenstopps hätten einlegen wollen. Wie sollten wir ahnen, was dazwischen wäre, wenn wir nicht mal das Etappenziel des Tages kannten. Alles war drin, auch das Queren der Abruzzen im Tunnel, um dann auf der anderen Seite der Berge Richtung Tyrrhenisches Meer zu stechen. Es wurde bergiger und auf einer Anhöhe thront die Altstadt von Loreto mit ihrer abseitigen, gigantischen Basilika über der Region Richtung Adria. ›Das muss man gesehen haben.‹ Ich bemühe mich nicht in Verallgemeinerungen zu zerfließen. Was man tun muss, steht auf ganz einem ganz anderen Blatt, als das, was ich gern tun würde. ›Aber das …‹

Fantasyfilme und Historienserien, wie sie auf Streaming-Fernsehkanälen ausgestrahlt werden und fast ein Milliardenpublikum haben, finden in mir alles andere als eine begeisterte Followerin. Schon die düsteren und trotzdem über Gebühr bunten Trailer, kurz vor den Nachrichten oder einem belanglosen Liebesfilm im Normalprogramm, erschrecken mich mehr, als dass sie begeistern. Alle haben sie irgendwie alte Häuser auf noch älteren Felsen. Als wäre das Erringen des Steins, das Triumphieren über die Umgebung der Menschheit eigener Plan. Ich kann mir vorstellen, warum Menschen zu den Drehorten nach Dubrovnik – das alte Ragusa – oder die Küste von Kantabrien fahren. Natürlich steht Mont-Saint-Michel im französischen Wattenmeer ziemlich weit oben auf der Liste touristischer Highlights. Oben drauf – für einen Toppplatz in touristischen Verkehrsbewegungen – wertet die Abtei als bekannte Wallfahrtsstätte doppelt. Mit Verlaub, ich bin kein Katholik und Loreto war nicht ein einziges Mal in unserer Reisevorbereitung bedacht oder gar erwähnt. Wir sahen die Kirche und das Ortsschild. Das war 's. Unser Weg führte daran vorbei – und ich musste dahin. Entgegen aller kritischen ›Thront-auf-Felsen. Typisch Männer‹-Grundeinstellungen. – Ich musste einfach da hin und rein. Ein Hinweis auf mein Verlangen war mit keiner Silbe erforderlich.

„Da ist eine Kirche. Scheint ein ganzes Kloster zu sein. Das wollt ihr bestimmt sehen“, sagte unser Fahrer wie selbstverständlich. Er war doch noch einfühlsam auf die verkürzten Fesseln seiner Verlobten eingegangen, ohne weder den Umstand noch Katja zu bewerten. Auch hielt er sich mit heißen Tipps zurück. Die Straße wurde kurviger und hügelig. Mit der wechselnden Landschaft stieg seine Entdeckungslust.

„Oooh, ist die groß, seehr groß und seehr alt.“

Junior umkurvte den Fels bis zu dem öffentlichen Parkplatz unterhalb. Aber das Imponieren allein – ohne Anlass oder Melodie – konnte nicht die ganze Erklärung für das gebaute Konzert sein. Beim Näherkommen zu Fuß – spätestens auf dem Vorplatz – umgeben von zugeordneten und anliegenden Gebäudeteilen, war klar, dass die prachtvolle Kirche für viele Menschen mehr ist als eine – nur prachtvolle Kirche. Neben dem Hauptbauwerk zeugen insbesondere die den Platz flankierenden Bauten mit den hohen Arkaden von einem inhaltlichen Anspruch. Es ist die Basilika vom Heiligen Haus, in dem sich, so der Glaube, das Haus der Maria von Engeln aus Nazareth nach Loreto gebracht, befindet. Die Basilika ist eine der wichtigsten Pilgerstätten der Welt.

„Wow, die haben sich nicht lumpen lassen“, sagte mein Sohn mit seinem Feinsinn, beeindruckt von Zustand, Materialität und Dekor. Er hatte Recht, auch wenn ich seine Wortwahl nicht für besonders glücklich hielt. Wir standen einem Meisterwerk italienischer Renaissance, wie sich auch in der Verkleidung des Hauses der Maria zeigt. Wenn Junior aber von dieser spräche, ginge er salopp mit dem ›nicht lumpen lassen‹ darüber hinweg wie ein Schaulustiger in einer unkultiviert-protzigen Designerhütte. Wer es waren sie und warum haben sie es gebaut? Die es hatten bauen lassen, waren die römische Kirche und die Künstler und Planer der Renaissance, wie Bramante. Mein ignorantes Sonnenkind sah sich nicht als kulturell aktiven Nachfolger, und er fühlte nicht einmal ein kulturelles Erbe, das es zu bewahren gilt. Aus seiner Sicht der Dinge hatte da einfach irgendjemand zu irgendeiner Zeit irgendetwas gemacht. – Fertig und abgehakt. Als Protestantin bin ich selbst mit der Marienverehrung rücksichtsvoll innehaltend, und mein Glaube hat weniger mit Reliquien und Objekten zu tun.

Wir sahen uns alles an. Die orthodoxen Wurzeln meiner zukünftigen Schwiegertochter schlugen aus. Sie wurde stiller, als sie ohnehin schon war. Ravenna hatten sie verpasst und Besseres zu tun, als sich Meisterwerke des Sakralbaus anzusehen. In Loreto war Katja wie ein vor Umsicht vorsichtiges Mäuschen an meiner Seite. Fast andächtig ging sie leise neben mir. Sie hat ohnehin keine raumgreifenden Bewegungen der Hände oder Beine. Eine hemdsärmelige Sportlichkeit wäre schwer vorstellbar gewesen. Wenn sie ihre Begeisterung zum Ausdruck brachte, flüsterte sie. „Soo schön, Anna.“

Junior war thematisch raus und räumlich abgeschlagen. Er ging einige Meter hinter uns, was ihn nicht hinderte, weiter seinen Worten in steinerner Umgebung Hall zu verschaffen. „Was soll das sein? Das Haus der Maria? Wie geht das denn?“

›Ihm fehlt …. Hach, es ist müßig, darüber nachzudenken, was nicht da ist, wenn das Vorhandene an ihm nicht mehr als sättigende Präsenz im Gepäck hat. Der Mayer folgte uns mit Abstand. Rechts auf dem Rückweg von dem Haus der Maria am seitlichen Gang des Kirchenraumes saß ein Mönch in der ersten Reihe. Mit weichen, aber wachen Augen blickte er zu mir. Dann sah er zu Katja und zurück zu mir. Er lächelte und grüßte mich in der Art, dass er den Kopf leicht senkte. Ich erwiderte entsprechend. Der Mönch kam mir bekannt vor. Er war es nicht. Mein Klassiker: Vertrautheit bis hin zur Verwechslung. Kurz hielt ich ihn für Pater Pio. Aber wie ich später nachgelesen hatte, war dieser schon seit mehr als fünfzig Jahren tot.

Ich grüße ungeachtet von Benimmregeln jede Person, die mir sympathisch oder vertraut ist. So auch einen Mann, die in einem Restaurant in Hamburg von der Toilette kam und an unserem Tisch vorbeiging. Mit einem freundschaftlichen „Hallo!“, das mir spontan entwich, begrüßte ich den alten Weggefährten einer nebulösen Vergangenheit. Der Mann wirkte etwas irritiert, aber erwiderte mit ebensolcher Freundlichkeit.

Eine der Bekannten, mit denen wir dort essen waren, fragte: „Woher kennst du Walter Matthau?“

„Den Schauspieler? Kenne ich nicht.“

„Das war er gerade.“

„Ach. Er sieht nett aus.“

In München hatte ich viele Jahre später auch eine supersympathische Frau kennengelernt, ohne mit ihr zu sprechen. Beide versuchten wir es. Wir waren uns so vertraut, dass es wirkte, als würden wir sehr ähnlich sein und die gleichen Gedanken haben. Uns als ähnlich zu bezeichnen trifft es nicht ganz. Wir waren identisch und sagten sogar dasselbe, denn ich kommunizierte mit meinem Spiegelbild in der Scheibe einer Münchner Promipizzeria. Obwohl ich an dem Tag einen nicht mehr ganz frischen Geburtstag hatte, waren es keine ersten Demenzerscheinungen, sondern das eine Glas Wein zu viel.

Auch im Nachhinein war der Franziskanermönch aus der Basilika in Loreto ein Thema.

„Das war ja wieder ein Ding“, sagte mein Sohn, als wir zurück im Wagen waren und weiter durch die Hügel fuhren.

„Ja, die Kirche ist beeindruckend. Und komm mir jetzt nicht mit einer Fragestunde, wie das Haus der Maria dahin kommt und ob es Engel gibt. Mache es bitte mit dir selbst aus.“

„Das meine ich nicht. Du und der Mönch hattet gleich eine Wellenlänge.“

„Welcher Mönch?“

„Der an in der ersten Reihe, direkt bei dem Haus von …. – Ach Mutter, wie viele Mönche hast du darin gegrüßt? Was rede ich? Da war nur einer.“

„Was hast du bloß? Was soll mit dem gewesen sein?“

„Der hat uns gesehen und sich schlapp gelacht. Da sitzt der da in der braunen Kutte mit seinem grauen Vollbart, sieht älter aus, als er ist, mustert euch eine nach der anderen, grüßt dich, und mich grinst er an.“

„Schatz, isch libbe disch, aber, ich denke, du brauchst das nicht zu sagen. Das war heiligger Maaann.“

„Katja, willkommen in der Familie. Er bildet sich nur wieder etwas auf sich ein. Gewöhne dich dran. – Das Zentrum des Universums hält er besetzt.“

„Mutter, so ruhig er da saß, so breit war sein Grinsen. Die Augen hatten mehr Feuer als mein Motor. Wenn es ihn nicht amüsiert hätte, wäre er aufgestanden, hätte seine Hand auf meine Schulter gelegt und gesagt: ›Sohn, ich wünsche dir Kraft und Zuversicht.‹ Stattdessen grinst mich der ›heilige Mann‹ an und seine Augen sagen: ›Ich schmeiße mich weg vor Lachen. Viel Glück, aber das schaffst du nie mit den beiden. Gute Reise. Und immer eine handbreit Wasser unter dem Kiel.‹

›Thema verfehlt‹, dachte ich. Die Leidtragende der gesamten Situation bin ja wohl ich gewesen. Ich saß auf der Rückbank und durfte mir das ganze Liebesgeschwafel anhören. Ständig wartete ich, weil die beiden nicht einmal pünktlich zu den gemeinsamen Essensterminen erschienen. Mit Katja teilte ich wenigstens das Interesse für Kultur – obwohl sie wollte, und ich kann es ja verstehen, einfach alles Neue aufsaugen. Das war schon eine ziemliche Leistung von ihr, weil sie die ganze Zeit auf hochhackigen Schuhen unterwegs war. Für sie war alles neu, sogar der Kerl, der neben ihr saß – mein Sohn. Der wiederum hatte nun wirklich nichts auszustehen. Er fuhr viel, aber das kann er. Kulturinteressiert ist er nur, wenn sich ihm eine gefällige Aussicht aus dem Straßencafé bietet. Italienische Lebensart kannte er aus Familienurlauben und Reisen mit Kumpels. Auch da gab es nichts, wozu als Basisstation nicht ein Straßencafé, ein Caffè oder eine Espressobar auskömmlich gewesen wäre.

Ich kann nicht sagen, ob es an meiner Ehe, Mutterschaft oder generell an mir liegt, dass meine Interessen nur Berücksichtigung finden, wenn es der Sippe passt. Vorausgesetzt, sie bekommen überhaupt mit, dass ich so etwas wie Interessen habe. Das würde aber heißen, dass sie wüssten, dass ich da bin.

Zweifellos wissen sie es und wussten es immer – wenn sie sich erinnerten. Verlassen zu werden ist eine üble Sache – kann ich mir vorstellen. Zumindest hätten da bei mir die Gefühle aller Art Brennpunkte oder ein Ziel. Schuldige, Opfer, schwarz und weiß. Vergessen zu werden hat eine eigene Qualität. Da gibt es einerseits die wirklich dumme Leere und andererseits ein Gefühl, in der flachsten Pfütze der Welt unterzugehen.

Wir hatten etliche wunderbare auch wunderbar normale Familienurlaube. Der Aufenthalt in einer finnischen Hütte war so ein normaler Urlaub. Dass da verschiedene Erwartungshaltungen auf die Reise gingen und ich nahezu nach auf einem Inselchen vergessen wurde? Man steckt da nicht drin. – Vorher.

Meinungen

Zur Vermeidung von Spam und Verbreitung von propagandistischen Inhalten, Beleidigungen und unziemlicher Wortwahl, werden alle Beiträge vor Veröffentlichung geprüft. Gleiches gilt für Kommentare, die so überhaupt nichts mit den Textinhalten zu tun haben. Eine Zensur von kritischen Äußerungen, Wertungen und Emojis findet nicht statt.

0 0 votes
Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Meinungen
Inline Feedbacks
Alle Kommentare zeigen

alle Kapitel

Kapitel 2: Nichtflieger

Kapitel 2: Nichtflieger

2 min 48 sec read
Kapitel 4: Lumumba

Kapitel 4: Lumumba

2 min 42 sec read
Kapitel 9: Brieffreundschaften

Kapitel 9: Brieffreundschaften

3 min 47 sec read
Kapitel 10: Nadelya

Kapitel 10: Nadelya

6 min 7 sec read
Kapitel 12: Lost Nuggets

Kapitel 12: Lost Nuggets

5 min 53 sec read
Kapitel 13: Eau de Toilette

Kapitel 13: Eau de Toilette

11 min 0 sec read
Kapitel 15: Ankunft in Minsk

Kapitel 15: Ankunft in Minsk

7 min 20 sec read
Kapitel 17: Lecker! Suuupe

Kapitel 17: Lecker! Suuupe

6 min 26 sec read
Kapitel 18: Essen mit Familie

Kapitel 18: Essen mit Familie

1 min 34 sec read
Kapitel 21: Lauschkommando

Kapitel 21: Lauschkommando

9 min 38 sec read
Kapitel 22: Puppentanz

Kapitel 22: Puppentanz

3 min 34 sec read
Kapitel 24: Mordsstimmung

Kapitel 24: Mordsstimmung

6 min 19 sec read
Kapitel 32: Dickschiffe

Kapitel 32: Dickschiffe

4 min 16 sec read
Kapitel 34: Bodenständig

Kapitel 34: Bodenständig

3 min 15 sec read
Kapitel 35: Mönch und Mayer

Kapitel 35: Mönch und Mayer

8 min 55 sec read
Kapitel 39: Piazza Grandiosa

Kapitel 39: Piazza Grandiosa

3 min 34 sec read
Kapitel 45: Gastfreundschaft

Kapitel 45: Gastfreundschaft

2 min 30 sec read
Kapitel 46: Personenverkehr

Kapitel 46: Personenverkehr

2 min 36 sec read
Kapitel 47: Schussfest

Kapitel 47: Schussfest

3 min 42 sec read
Kapitel 49: Amalfitana

Kapitel 49: Amalfitana

3 min 57 sec read
Kapitel 51: Capri oder Kubba

Kapitel 51: Capri oder Kubba

5 min 5 sec read
Kapitel 52: »Amaaalphi«

Kapitel 52: »Amaaalphi«

4 min 23 sec read
Kapitel 53: Luxus und Leben

Kapitel 53: Luxus und Leben

14 min 15 sec read
Kapitel 54: Meet and Greet

Kapitel 54: Meet and Greet

4 min 11 sec read
Kapitel 55: Stilfragen

Kapitel 55: Stilfragen

12 min 10 sec read
Kapitel 57: Muchos Nachos

Kapitel 57: Muchos Nachos

2 min 40 sec read
Kapitel 59: Pilzgerüchte

Kapitel 59: Pilzgerüchte

7 min 50 sec read
Kapitel 61: Kamelhandel

Kapitel 61: Kamelhandel

6 min 27 sec read
Kapitel 63: Montparnasse

Kapitel 63: Montparnasse

3 min 46 sec read

urheberrechtlich geschützte Inhalte