Kapitel 11: Blaue Nägel am Newski
Blaue Nägel am Newski Das Untröstliche an Meinungsbildern ist ihr Stehvermögen. Blaue Nägel am Newski Sankt Petersburg Hach! Gleich bin ich da. Bildende Kunst, Musik und Dichtung. Die russische Seele: Zwischentöne des Lebens. – Lachen und weinen. – Lieben, streiten und versöhnen. – Aufbruch in eine neue Ära der Selbstbestimmung. Schöpferisch und behütend. Willkommen zurück, die du nie wirklich weg warst. Global vernetzt, geerdet in Europa. Sankt Petersburg, du Holde. – Warum hocke ich fast allein in dem Flieger? Hat die Welt den Knall nicht gehört? – Sie hatte. Der Startschuss verhallte nicht. Es war Frühling. Der lag sicher in der Luft. Was sonst noch alles darin umhergeisterte, interessierte mich nicht die Bohne. Das änderte in den folgenden Tagen. Mit siebzehn Passagieren an Bord war die Maschine von Helsinki kein Schwergewicht der Begeisterung. Wir waren zeitig dran, hinter den jetzt löchrigen Eisernen Vorhang zu kommen. Meine Vorbereitung glänzte in Form zweier Stapel von Dokumenten, Adressen und Reservierungsbestätigungen in Handtasche und Brustbeutel. Fast schon pingelig hatte ich mich abgesichert. Alles war organisiert. Die Bestätigung für den Transfer vom Flughafen hatte ich natürlich auch dabei. Das vornehme Top-Hotel am Isaaksplatz würde einen Wagen schicken. Mir war es wichtiger, hinzukommen und Lena zu treffen. Kultur? Klar. Aber mein Ehemann hatte einen Mayer-Auftritt daraus werden lassen. Ich flog mur mal kurz für eine Woche nach Sankt Petersburg. Wäre Armenien mein Reiseziel gewesen, ich hätte wahrscheinlich Blutkonserven mitgenommen. So zumindest waren die Empfehlungen. Sogar Karten für das Mariinski-Theater hatte ich. Alles in Butter. – Bis zur Landung auf dem schrottigen Flughafen von St. Petersburg. Auf einen Schlag, mit dem ersten Blick in die Abfertigungshalle, hatte ich die Schnauze gestrichen voll. Alle Erwartungen an Substanz waren kalt verraucht. Gut, das mit der Selbstbestimmung und Integration hatte ich mir im Eifer der erhofften Überwältigung schöngeredet. Dass es neu war, unbestritten. Dass es völlig fremd und nirgends verankert war, sind Fakten. Die fordern ein klares Auge und einen langen Atem. Jedenfalls ist das nichts zum unter den Tisch Träumen. „Ach du arme Scheiße?“ Ich bin mir sicher, dass niemand mich gehört hatte. – Obwohl, etwas spricht dagegen. Das war wie am Geruch erkennen, dass man in einem Krankenhaus ist. Auf dem ‚Airport‘ hatte die Wahrnehmung alle Dimensionen. Eine aufdringliche Präsenz von Bewegung aber Trägheit, Anspruch aber Nachlässigkeit, Sentimentalität aber Egoismus. – Die dürstende Starre in einem Bienenstock, nachdem jemand Selbstfindungs- und Erfolgsratgeber verteilt hatte. – Nichts funktionierte. Nichts passierte. Keine Abfertigung. – Ich bin selbst durch, suchte das Gepäck, rauschte raus und sah mich um. Nichts. Kein Shuttle, kein Taxi, kaum Menschen, nur hängende oder vor Gier geifernde und schnüffelnde Gesichter. Meine Erregung zuvor war auch nicht unvoreingenommen. Sie hatte sich mit einem Knall vom vergifteten Acker verabschiedet. Den Mantel des Gastbenehmens hatte sie gleich mitgerissen. Für das Warten ist Geduld nicht hinderlich. Meine zuweilen bitter aufkommende Giftigkeit mag ein ausgelöster Schutzmechanismus sein. Als Vertreterin des ‚schwachen Geschlechts‘ bezweckte ich vielleicht, achtsam und wehrhaft zu bleiben. Allein die Annahme meiner Hilflosigkeit bringt mich richtig auf die Palme. Ich war auf hundertachtzig Sachen und trotzdem noch am Beschleunigen. Zitrone, Zitrone. Geheimnisvoll direkt „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ein adrett unscheinbarer Mann auf Englisch. Seine Stimme war ein Gegenmodell zu meinem ersten Eindruck von Russland: klar, stabil und doch beweglich. Beim Blick auf den Vorbereich war mir sein tadelloses Heranschleichen nicht aufgefallen. Er hatte es tatsächlich gewagt, mich anzusprechen. Tapferes Kerlchen, konterte ich still, bereit, richtig Dampf abzulassen. „Wie sollten Sie das? Was ist das für ein Scheißland? Hier funktioniert nichts. Alles bestellt und reserviert, und nicht einmal der verdammte Scheißwagen zum Hotel ist da.“ „Ah, Sie sind Italienerin?“ Er wich nicht zurück, sondern kam mir mit geöffneten Armen etwas näher. Vielleicht hatte er den Kopf zur Seite geneigt. Möglich, dass er lächelte oder lachte. Keine Ahnung. Ich war mit mir beschäftigt. „Nein, Deutsche.“ „Also eine deutsche Italienerin. Sehr angenehm. Mein Name ist … “ Er stellte sich vor. „Ich bin vom russischen Geheimdienst. Das bekommen wir hin.“ Zumindest sein Name scheint kein Geheimnis zu sein. Oder der ist genauso falsch am Platz, wie ich mich fühle. Mit seinem souveränen und aufgeschlossenen Auftreten glättete er im Nu die Wogen. Er winkte einen anderen, genau wie er in einem Anzug gekleideten Mann zu sich. Die beiden sprachen kurz miteinander. Knisternde Spannung angesichts des genannten Berufsbildes wollte bei mir nicht aufkommen. Der zweite Agent verschwand wieder. Wir standen vor dem Eingang und unterhielten uns über knallharte, ermittlungswürdige Daten: unsere Familien, meine Reisepläne und Sankt Petersburg. Vom hohen Ross war ich runter. Eine schwarze Stretchlimousine – mehr noch: eine Staatskarosse russischer Bauart – hielt direkt vor uns. Der Fahrer legte das Gepäck in den Kofferraum und der Geheimdienstler öffnete die Tür. Ich bedankte mich bei der Verabschiedung mit flüchtiger Umarmung bei dem Kavalier alter Garde in neuer Schule. Überzeugt von meiner umfassenden Menschenkenntnis, sah ich kein Risiko, in den Wagen einzusteigen. Einen Geheimdienstausweis hatte ich nicht zu Gesicht bekommen. Da hätte sonst was drauf stehen können. Mit aufgeregter Neugierde auf die europäischste russische Stadt saß ich im Rückraum des filmreifen Wagens. Der mit jedem fantastischen Eindruck wachsende Wellenberg gebauter Eleganz schwappte von Seitenfenster zu Seitenfenster. Die Bauwerke, die Kunstsammlung der Eremitage, das Lebensgefühl warteten – auf Anna. Mein inneres Wetter war voll von Sonnenschein, und ich freute mich auf Lena. Sie stand mit ihrem Freund Andrej vor dem Hotel, als das ausnahmsweise nicht beflaggte Fahrzeug vorfuhr. Ich hatte sie nicht bemerkt, weil ich direkt in die Lobby gerauscht war. Der Drehtür zeigte, was Geschwindigkeit ist. Beim Einchecken hörte ich ein dumpfes Klopfen und sah Lena und Andrej fast neben der Rezeption. Die beiden klebten von außen an der Fensterscheibe des Hotels. Sie sahen aus wie Stofftiere an den hinteren Seitenscheiben in manchen Personenwagen. Endlich klappt hier was, juchzte ich und winkte sie herein. Pustekuchen. Ich hatte meine Rechnung ohne den Wirt nicht bedacht. Der hatte für seinen herausgeputzten Laden eine eigene Vorstellung von gesellschaftlichem Umgang und gegenseitigem Respekt. „Hier kommen nur Gäste des Hauses rein“, klärte mich eine besserwisserisch beflissene Schlange des