Das Untröstliche an Meinungsbildern
ist ihr Stehvermögen.
Blaue Nägel
am Newski
Sankt Petersburg
Hach! Gleich bin ich da. Bildende Kunst, Musik und Dichtung. Die russische Seele: Zwischentöne des Lebens. – Lachen und weinen. – Lieben, streiten und versöhnen. – Aufbruch in eine neue Ära der Selbstbestimmung. Schöpferisch und behütend. Willkommen zurück, die du nie wirklich weg warst. Global vernetzt, geerdet in Europa. Sankt Petersburg, du Holde. – Warum hocke ich fast allein in dem Flieger? Hat die Welt den Knall nicht gehört? – Sie hatte. Der Startschuss verhallte nicht.
Es war Frühling. Der lag sicher in der Luft. Was sonst noch alles darin umhergeisterte, interessierte mich nicht die Bohne. Das änderte in den folgenden Tagen. Mit siebzehn Passagieren an Bord war die Maschine von Helsinki kein Schwergewicht der Begeisterung.
Wir waren zeitig dran, hinter den jetzt löchrigen Eisernen Vorhang zu kommen. Meine Vorbereitung glänzte in Form zweier Stapel von Dokumenten, Adressen und Reservierungsbestätigungen in Handtasche und Brustbeutel. Fast schon pingelig hatte ich mich abgesichert. Alles war organisiert. Die Bestätigung für den Transfer vom Flughafen hatte ich natürlich auch dabei. Das vornehme Top-Hotel am Isaaksplatz würde einen Wagen schicken. Mir war es wichtiger, hinzukommen und Lena zu treffen. Kultur? Klar. Aber mein Ehemann hatte einen Mayer-Auftritt daraus werden lassen. Ich flog mur mal kurz für eine Woche nach Sankt Petersburg. Wäre Armenien mein Reiseziel gewesen, ich hätte wahrscheinlich Blutkonserven mitgenommen. So zumindest waren die Empfehlungen.
Sogar Karten für das Mariinski-Theater hatte ich. Alles in Butter. – Bis zur Landung auf dem schrottigen Flughafen von St. Petersburg.
Auf einen Schlag, mit dem ersten Blick in die Abfertigungshalle, hatte ich die Schnauze gestrichen voll. Alle Erwartungen an Substanz waren kalt verraucht. Gut, das mit der Selbstbestimmung und Integration hatte ich mir im Eifer der erhofften Überwältigung schöngeredet. Dass es neu war, unbestritten. Dass es völlig fremd und nirgends verankert war, sind Fakten. Die fordern ein klares Auge und einen langen Atem. Jedenfalls ist das nichts zum unter den Tisch Träumen.
„Ach du arme Scheiße?“
Ich bin mir sicher, dass niemand mich gehört hatte. – Obwohl, etwas spricht dagegen.
Das war wie am Geruch erkennen, dass man in einem Krankenhaus ist. Auf dem ‚Airport‘ hatte die Wahrnehmung alle Dimensionen. Eine aufdringliche Präsenz von Bewegung aber Trägheit, Anspruch aber Nachlässigkeit, Sentimentalität aber Egoismus. – Die dürstende Starre in einem Bienenstock, nachdem jemand Selbstfindungs- und Erfolgsratgeber verteilt hatte. – Nichts funktionierte. Nichts passierte. Keine Abfertigung. –
Ich bin selbst durch, suchte das Gepäck, rauschte raus und sah mich um. Nichts. Kein Shuttle, kein Taxi, kaum Menschen, nur hängende oder vor Gier geifernde und schnüffelnde Gesichter. Meine Erregung zuvor war auch nicht unvoreingenommen. Sie hatte sich mit einem Knall vom vergifteten Acker verabschiedet. Den Mantel des Gastbenehmens hatte sie gleich mitgerissen.
Für das Warten ist Geduld nicht hinderlich. Meine zuweilen bitter aufkommende Giftigkeit mag ein ausgelöster Schutzmechanismus sein. Als Vertreterin des ‚schwachen Geschlechts‘ bezweckte ich vielleicht, achtsam und wehrhaft zu bleiben. Allein die Annahme meiner Hilflosigkeit bringt mich richtig auf die Palme. Ich war auf hundertachtzig Sachen und trotzdem noch am Beschleunigen.
Zitrone, Zitrone.
Geheimnisvoll direkt
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ein adrett unscheinbarer Mann auf Englisch. Seine Stimme war ein Gegenmodell zu meinem ersten Eindruck von Russland: klar, stabil und doch beweglich. Beim Blick auf den Vorbereich war mir sein tadelloses Heranschleichen nicht aufgefallen. Er hatte es tatsächlich gewagt, mich anzusprechen.
Tapferes Kerlchen, konterte ich still, bereit, richtig Dampf abzulassen.
„Wie sollten Sie das? Was ist das für ein Scheißland? Hier funktioniert nichts. Alles bestellt und reserviert, und nicht einmal der verdammte Scheißwagen zum Hotel ist da.“
„Ah, Sie sind Italienerin?“ Er wich nicht zurück, sondern kam mir mit geöffneten Armen etwas näher. Vielleicht hatte er den Kopf zur Seite geneigt. Möglich, dass er lächelte oder lachte. Keine Ahnung. Ich war mit mir beschäftigt.
„Nein, Deutsche.“
„Also eine deutsche Italienerin. Sehr angenehm. Mein Name ist ... “ Er stellte sich vor. „Ich bin vom russischen Geheimdienst. Das bekommen wir hin.“
Zumindest sein Name scheint kein Geheimnis zu sein. Oder der ist genauso falsch am Platz, wie ich mich fühle.
Mit seinem souveränen und aufgeschlossenen Auftreten glättete er im Nu die Wogen. Er winkte einen anderen, genau wie er in einem Anzug gekleideten Mann zu sich. Die beiden sprachen kurz miteinander. Knisternde Spannung angesichts des genannten Berufsbildes wollte bei mir nicht aufkommen. Der zweite Agent verschwand wieder. Wir standen vor dem Eingang und unterhielten uns über knallharte, ermittlungswürdige Daten: unsere Familien, meine Reisepläne und Sankt Petersburg. Vom hohen Ross war ich runter.
Eine schwarze Stretchlimousine – mehr noch: eine Staatskarosse russischer Bauart – hielt direkt vor uns. Der Fahrer legte das Gepäck in den Kofferraum und der Geheimdienstler öffnete die Tür. Ich bedankte mich bei der Verabschiedung mit flüchtiger Umarmung bei dem Kavalier alter Garde in neuer Schule. Überzeugt von meiner umfassenden Menschenkenntnis, sah ich kein Risiko, in den Wagen einzusteigen. Einen Geheimdienstausweis hatte ich nicht zu Gesicht bekommen. Da hätte sonst was drauf stehen können.
Mit aufgeregter Neugierde auf die europäischste russische Stadt saß ich im Rückraum des filmreifen Wagens. Der mit jedem fantastischen Eindruck wachsende Wellenberg gebauter Eleganz schwappte von Seitenfenster zu Seitenfenster. Die Bauwerke, die Kunstsammlung der Eremitage, das Lebensgefühl warteten – auf Anna. Mein inneres Wetter war voll von Sonnenschein, und ich freute mich auf Lena.
Sie stand mit ihrem Freund Andrej vor dem Hotel, als das ausnahmsweise nicht beflaggte Fahrzeug vorfuhr. Ich hatte sie nicht bemerkt, weil ich direkt in die Lobby gerauscht war. Der Drehtür zeigte, was Geschwindigkeit ist. Beim Einchecken hörte ich ein dumpfes Klopfen und sah Lena und Andrej fast neben der Rezeption. Die beiden klebten von außen an der Fensterscheibe des Hotels. Sie sahen aus wie Stofftiere an den hinteren Seitenscheiben in manchen Personenwagen.
Endlich klappt hier was, juchzte ich und winkte sie herein. Pustekuchen. Ich hatte meine Rechnung ohne den Wirt nicht bedacht. Der hatte für seinen herausgeputzten Laden eine eigene Vorstellung von gesellschaftlichem Umgang und gegenseitigem Respekt.
„Hier kommen nur Gäste des Hauses rein“, klärte mich eine besserwisserisch beflissene Schlange des Hotels auf. Sie spielte mit dem bis dahin makellosen Ruf des Etablissements. Russland hatte fahrlässig alle Voraussetzungen geschaffen, damit ich stinksauer den Kessel auf Temperatur brächte.
Kein Thema. Hat funktioniert. Bin dabei.
Zusammen doch am schönsten. Ein Publikum ist enorm hilfreich, wenn es Gelegenheit zum Mitmachen wittert, um seine Menschlichkeit ohne Kosten und Aufwand zu feiern. Es gab es auch hier eine vermeidbare, klangvolle und nur verbale Auseinandersetzung. Einmal mehr hatte ich den Streit nicht angefangen, aber die Bataille gewonnen.
Dichter und Dasein
Nach einer herzenden Umarmung mit Lena und dem Einchecken setzten wir uns in die Bar. Bei Kaffee unterhielten uns, erregt von Freude und Interesse. Es gefiel den beiden im Hotel. Sie hatten mich durchs Fenster in Rage erlebt. Es gab ihnen Sicherheit. – Zu viel. Andrej stand auf, wandelte zu einem Kellner und sprach mit ihm.
Lasst meine Leute in Ruhe, raunte ich in Richtung des Obers.
„Gibt es wieder Ärger?“ Mit gebotenem Schalldruck gab ich mich auch hörbar im Barbereich der Lobby zu erkennen.
„Nein, Anna. Es ist alles in Ordnung. Ich frage nur kurz nach der Speisekarte“, soufflierte Andrej, der einer gehobenen Lebensart zugeneigte lässig zurück.
„Was tust du bitte? – Wenn du es dir leisten kannst, okay. Ansonsten würde ich gern gefragt werden. – Vorher.“
Nun hatten auch die restlichen Anwesenden mitbekommen, dass ‚A German in da House‘ war. Obwohl wir englisch sprachen, hatte mein Brustton keine Handbremse der Höflichkeit.
Am Nachbartisch gegenüber saß ein Bild von einem Herrn mit üppigem Rauschebart. Er trug eine braune, tweedähnliche, dreiteilige Kombination. Die Augen fesselten, wenn man die Muße aufgebracht hätte, sich darauf einzulassen. Er lächelte mich an, stand auf und verbeugte sich deutlich, aber dezent. Beim Vorbeugen zog er seine legere Schiebermütze mit gekonnter Geste vor mir und setzte sich wieder.
Ich nickte ihm zu.
Was ist hier los?, fragte ich mich. Zustimmung zu meinem Verhalten ist selbstverständlich und bedurfte keines Applauses. Hat er mich erkannt? Sehe ich jemandem ähnlich? Bin ich jetzt endlich rechtmäßig ‚Zarin Anna die Aufbrausende‘?
„Anna, kennst du ihn?“, fragte Lena aufgeregt. Andrej saß wieder am Tisch – unverrichtetem Geltungsdrangs. Er stecke es weg wie ein echter Mann – und schmollte nur zwei Stunden.
„Woher sollte ich den Herrn kennen? Von den anderen sechzehn aus dem Finnlandflieger ist keiner hier.“
„Das ist ‚Tutnichts-zur-Sache‘. Jeder in Russland kennt ihn. Er ist ein berühmter und angesehener Schriftsteller.“
Bart hat er ja, aber Tolstoi ist lange tot. Die vielbeschriebene und besungene russische Seele muss ganz schön herhalten. Nachlässigkeit und schlechtes Benehmen zu kaschieren ist eine Mammutaufgabe für das zarte Gefühl. Der Kerl tut mir leid. Wie will er dagegen anschreiben?
Später sind wir zu ihr rausgefahren. – Nicht zur russischen Seele, sondern in die Plattenbausiedlung, in der Lena wohnte. Ich sah mich um:
Es liegt an meiner Einstellung. Das erfahrene Lebensgefühl war mir über viele Maße fremd. Russland: Hinter einem tiefgründigen, sozial gewichtigen Vortrag steckte dort kein entsprechend fragender oder fordernder Gedanke. Es war eben nicht wie bei den russischen Dichtern. Ich hatte gewogen und für zu leicht befunden. – Die Nahrungsmittel waren unerschwinglich. Natürlich tat es mir leid, und ich war entrüstet. Die als Luxus verteufelten Tomaten hätte Lena auf der langen, durchgehend besonnten Fensterbank ziehen können.
Gefeierte Leidensfähigkeit erlebte ich Live. Es ist absolut nicht politisch korrekt und es gibt für alles Erklärungen. Natürlich, historisch, in der gesellschaftlichen Entwicklung ist viel zu begründen. Aber jammern und gar nicht handeln? Ich kapierte es nicht. Etliche der Menschen, die lautstark litten, waren auskömmlich genährt und bestens ausgebildet. Sie schienen clever genug zu sein und sahen völlig gesund aus. Diese ‚Eliten‘ waren genau die Hühnervögel, die gern in die Teilnahmslosigkeit huschten.
So auch als eine Frau auf dem Bürgersteig umfiel und auf der Straße landete. Das geschah vor meinen Augen. Und es war nicht irgendeine Nebenstraße. Sie fiel mitten auf dem Newski-Prospekt. Der Newski – eine der für Glamour und Eleganz bekanntesten Boulevards der Welt. Das Problem eines Landes offenbarte sich vor mir auf seinem Pflaster:
Ein Bus rauschte ran und keinen kümmerte es. Sie kam zu sich und kroch um ihr Leben zurück auf den Gehweg. Ich war am weitesten entfernt. Doch als die erste und zunächst einzige Person war ich bei ihr und half ihr auf.
Meine Stimmung brach das Eis, als ich – natürlich auf Deutsch – mit den weichgespülten Bürschchen brüllend meckerte. Einige kamen zurück oder raus aus der Deckung. Sie kümmerten sich anständig um die Frau. Es war belebt und menschlich wenig vorzeigbar.
„Ich habe so was von die ...“ So oder ähnlich dachte und sprach ich mehr als ein Mal. Ich bin die Anna – die bisher blauäugige Frau mit den unverändert graugrünen Augen. Mir hilft es, mich zu erinnern. Schatten, Korsett, all die roten Linien ... sind Teil meiner Selbstachtung. Das bin ich. – Auch um mit anderen in Frieden und in gemeinsamer Verantwortung klarzukommen.
Es kann doch nicht sein, dass ..., folgten stets die erlebten Beispiele von Ignoranz und Zersetzungsversuchen gegen Grundwerte. Normalerweise halte ich den europäischen Humanismus als Licht in die Höhe. – Es waren zu viele Abtrünnige.
Mir blieb allein das Licht selbst zu schützen. – Es war von saugender Dunkelheit umgeben.
Lena zeigte mir ihre Stadt. Die imposanten Bauten hatten nichts mit der gesellschaftlichen Realität gemein. Ich war in der Eremitage. Vertraute und in mir verwurzelte Gemälde hingen an den Wänden. Der Direktor führte mich – warum auch immer – in ein Zimmer. Es war zumindest derzeit nicht öffentlich zugänglich. Er präsentierte mir ein Tasteninstrument, auf dem Chopin gespielt hatte. – Die Gegensätze fraßen sich wie Batteriesäure durch meine Menschenliebe.
Als ich in eine Kirche eilte, schnauzte ein russisch-orthodoxer Priester mich auf Deutsch an: „Es geht gleich los. Zack, zack“, und er klopfte dabei auf seine Armbanduhr.
Ich habe keine Ahnung, wie sie überall darauf kommen, dass ich Deutsche bin. Was solls? Der junge Mann hatte Recht: „Ich danke Ihnen für die Information“, und dachte: Du kannst auch gleich einen in die Wäsche kriegen.
Bei mir hatte sich ein wachsender Widerstand eingerichtet. Ich pfiff auf Aussagen, Ansagen und Kommandos, auf Regeln und auf hohle Sprüche. Von allem gab es im Überfluss, wenn aus theatralischer Betroffenheit Glanzlügen erblühten.
In Peterhof, dem Sommerpalast des Zaren, war ich unerlaubt. Mein Visum war nicht für Außenbezirke ausgestellt.
Wen kümmert’s? Mich nicht. Kommt doch!
In einem Restaurant dort saß neben uns ein junges französisches Paar. Sie versuchten, schon geraume Zeit zu bestellen. Die Kellner hatten sie nicht nur ignoriert, sondern schließlich auch direkt abgewiesen. Ich pfiff die Mannschaft zusammen und fragte sie, was ihre russischen Mütter davon halten würden. Dann lief es. Die beiden liebreizenden französischen Männer bedankten sich mit den rechten Händen auf ihren Herzen.
Irgendwie war ich angefressen, erschöpf und desillusioniert. Der rote Lack meiner eigentlich gesunden Fingernägel verfärbte sich blau. Ich war säuerlich. Der Luft ging es, dem tiefblauen Anschein der Nägel nach zu urteilen, ebenso.
Umverteilung
Abends suchte ich die Hotelbar auf. Es gibt Bars, die sind reine Sauftempel. Andere genießen einen kurzzeitigen Trend oder sind Klassiker. Selten, aber legendär sind diejenigen, in denen man beim Betreten Teil eines Organismus wird. Er schirmt sich nach außen ab. Drinnen entwickeln sich Gespräche zu bleibenden Erinnerungen.
Die Hotelbar in Sankt Petersburg hatte nichts von alledem. Sie war Anlaufstelle, Sammelpunkt, Rückzugsort – aber bedeutungslos. Verschiedene und unterschiedlich gepolte Gäste fanden sich auch dort ein. Ein goldgrabender Haufen internationaler Reisender war am Start. Und etliche wähnten sich schon im Ziel. Sie kamen aus dem Immobilienhandel und der Industrie. Sie waren Verkäufer oder von Konzernen gesandt, Niederlassungen zu gründen.
Es waren die Anfänge der freien Marktwirtschaft in einem neuen geografischen Markt. Mehr Menschen, höhere Stückzahlen. Die Strukturen veränderten sich. Eine Umschichtung suchte ihre Gewinner. Alle geiferten sie nach ihrem Stück vom Kuchen. Stadtentwicklung trug nur bedingt einer Vorausschau an die Aufgaben der Zukunft bei. Sankt Petersburg lag wie eine Schlachtplatte bei einer Hochzeitsfeier bereit. Die Braut muss bei der Verrohung geheult haben. Das tat der Stimmung keinen Abbruch. Es war noch Zeit – die Zeit. Der Brautstrauß würde gefangen werden. Solange er wieder und wieder in die Luft stieg, ohne zu Boden zu fallen, hielt das Vertrauen auf Bindung.
Ein japanischer Modezar war durch seine geradlinige Zurückhaltung auffällig. Er passte mit keiner Faser seiner Ausstrahlung in die Szene, die ihn umgab. – An diesen Ort zu dieser Zeit. – Oder doch. Er war wie ein Signal der Stabilität. – Geerdet, empfindsam, aber unverwundbar. Er trug einen schwarzen Anzug mit Stehkragen.
In voller Montur saßen EU-Kommissare und deren Mitarbeiter abseits der Meute. In der Nacht, wenige Stunden später wollten sie in den Hafen von Sankt Petersburg fahren. Ihr Auftrag: ein Schiff mit Hilfslieferungen zu bewachen. Es war eine Lieferung mit Kartoffeln. Die Kommissare waren dafür verantwortlich, dass die Ladung ihr Ziel erreichte und nichts geklaut würde. Ich unterhielt mich mit Ihnen und Sie hatten die Nase voll wie ich.
Aus dem Mariinski-Theater, für das ich Karten reserviert hatte, taumelte ich rückwärts wieder raus. Theaterkarten waren heiß begehrt, denn sie waren günstig. Nicht dass es um das Schauspiel ging. In der Pause gab es belegte Brötchen. Die waren als Freiverkauf in der Stadt unerschwinglich. Eine ‚relative‘ Win-win-Situation. Die Menschen erhielten Nahrung. Das Theater rechtfertigte durch ausverkaufte Vorstellungen den Verbleib des trotzdem unterbezahlten Ensembles.
Spiegel der Seelen
Am seltsam einsamsten empfand ich ein nächtliches Szenario auf dem Isaaksplatz. Es war einer jener Momente, die völlig unspektakulär und unbewegt die Wahrnehmung streifen. Man versucht, sich zu erinnern, oder sieht noch einmal hin. Den flüchtigen Reiz erklärend abzuhaken klappt nicht auf der Durchfahrt. Ich war fertig und nicht in Eile. Mir brannte sich das Gesehene wie die Essenz des dieser Tage Erlebten in die Erinnerung:
Ein Motorradfahrer saß seitlich auf seinem abgestellten Zweirad mitten auf dem menschenleeren Platz. Er sah mit genauso entleertem Blick ins Nichts.
Bei den Eindrücken, die ich in der Woche gewonnen hatte, war ich mir sicher: In den nächsten mindestens zwanzig Jahren komme ich nicht wieder.
Genug der Schauspielerei
Auf dem übersichtlich unansehnlichen Flughafen war ich nicht erleichtert, sondern noch geplättet. Neben mir in der Wartezone saß eine Gruppe, ein Ensemble deutscher Schauspieler. Ich kannte und kenne sie alle aus dem Fernsehen. Sie waren im Auftrag des Goethe-Instituts für einige Aufführungen in der Stadt. Auch sie reisten ab. Mit der mir am bekanntesten Schauspielerin kam ich ins Gespräch. Sie sah so mitgenommen aus, wie ich mich fühlte, und bestätigte es mir umgekehrt. Wir hatten in Sankt Petersburg ähnliche Erfahrungen gemacht und die gleichen trostlosen Rückschlüsse gezogen. Heulend lagen wir uns in den Armen.
Ein Kollege von ihr aus dem Ensemble ist bekannt für seine Rollen in Komödien und Liebesgeschichten. Er kam in possierlich-charmanter Geberlaune ahnungslos und unsensibel in unsere Welt getrabt. „Na, Mädels. Wie wäre es mit einem Glas Cham...?“
Weiter kam er nicht. Falscher Ort und falscher Zeitpunkt.
‚Home Sweet Home‘. – Zuhause ist es doch am besten. Zumindest ist das Elend abwägbar und manchmal abwendbar.
„Das muss ja übel gewesen sein. Du siehst vielleicht schrottig aus“, begrüßte mich mein Sohn. Junior verzichtete auf weitere Komplimente aus dem Fundus Mayeresker Punktlandungen. Er hatte Recht – und alles gesagt.
Lena besuchte mich im darauffolgenden Jahr. Trotzdessen wir uns gut verstanden hatten, brach der Kontakt ab. Es war bei uns beiden vielleicht ähnlich: Die Vertrautheit war gegeben, aber die Nähe fehlte.
Meinungen
Wo hast du krasse Gegensätze zwischen Schein und Sein erlebt?
…